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Erfahrungsbericht über die Tätigkeit als Ambulanz- und Beratungslehrerinnen für Kinder und Jugendliche mit autistischen Zügen im Schuljahr 1994/95 (in den östlichen Bezirken Berlins)

Berlin, im August 1995

Frantz, Birgit; Dr. Schirmer, Brita

Inhalt

1. Angaben über die betreuten Schüler
2. Zu Schwerpunkten unserer Arbeit
3. Unsere Empfehlungen für die Zukunft

1. Angaben über die betreuten Schüler

Seit Beginn des Schuljahres 1993/94 wandten sich insgesamt die Lehrer von 84 Kindern und Jugendlichen um Beratung und Unterstützung an uns. Von diesen Mädchen und Jungen haben 18 keine autistischen Züge. Hier erfolgte keine kontinuierliche Betreuung, deshalb werden sie in den folgenden statistischen Angaben nicht weiter berücksichtigt. 49 der 84 Schüler wurden in einem medizinischen Gutachten Autismus oder autistische Züge bescheinigt, weitere 17 befinden sich in der differentialdiagnostischen Abklärung. 21 Kinder und Jugendliche wurden uns im Schuljahr 1994/95 erstmals gemeldet. Unter den von uns betreuten Schülern sind 23 Mädchen und 43 Jungen. Das von anderen Autoren beschriebene Verhältnis Jungen : Mädchen von 3:1 bzw. 4:1 kann, wie im Schuljahr 1993/94, bei dem von uns betreuten Klientel nicht bestätigt werden.

Die Altersverteilung Jungen und Mädchen 

Alter in Jahren 5/6 7/8 9/19 11/12 13/14 15/16 17 und älter
männlich 2 11 7 10 4 2 7
weiblich 0 3 6 6 2 2 4
insgesamt 2 14 13 16 6 4 11

Im Vergleich zum Schuljahr 1993/94 wird deutlich, daß sich 1994/95 insbesondere der Anteil jüngerer Schüler, die von uns betreut wurden, deutlich erhöht hat. Der Anteil der elf- und zwölfjährigen Kinder mit autistischen Zügen ist auffällig hoch geblieben.

Für zwölf der von uns betreuten Kinder wurden im Schuljahr 1994/95 Förderausschüsse einberufen. Bei vier Jungen und zwei Mädchen standen die Bedingungen für eine erfolgreiche Einschulung im Mittelpunkt. Für zwei der Jungen konnten adäquate schulische Bedingungen in Schulen für Lernbehinderte im Ostteil der Stadt gefunden werden. Ein Junge wird in das Schul-Hort-Projekt in der Wilhelmsaue, ein Mädchen das am Nikolsburger Platz besuchen. Die Einschulung dieser beiden zuletzt genannten Kinder war nur möglich, weil der Elternverein ‚Hilfe für das autistische Kind‘ e.V. uns diese Plätze zur Verfügung gestellt hatte. Leider mußten wir für zwei Kinder auch eine Zurückstellung von der Schulpflicht empfehlen. Bei dem betroffenen Jungen entschieden wir uns für den Verbleib in der Vorschulgruppe einer Integrationskindertagesstätte, weil keine adäquaten schulischen Bedingungen gefunden werden konnten. Ein Mädchen wird, begleitet durch ihre Einzelfallhelferin, durch den stundenweisen Besuch in einer Schule für Lernbehinderte erste Gruppenerfahrungen sammeln.

Bei fünf Schülern wurden in den Förderausschüssen stützende Maßnahmen empfohlen, damit die weitere Beschulung unter angemessenen Lern- und Arbeitsbedingungen realisiert werden kann. Bei einem Jungen mußten die Bedingungen für den Übergang von der Schule für Lernbehinderte in die BB 10 geschaffen werden.

Die von uns betreuten Schüler besuchen folgende Schularten: 

Anzahl
Schule für
 
  Geistig-

behinderte

Lern-

behinderte

Körper-

behinderte

Gehörlose Sprach-

behinderte

Grund-

schule

männlich 26 6 2 0 1 4
weiblich 16 4 1 1 0 1
insgesamt 42 10 3 1 1 5

Damit besuchen ca. 70 Prozent der von uns bisher betreuten Kinder im Schuljahr 1995/96 eine Schule für Geistigbehinderte. Ca. 15 Prozent gehen in eine Schule für Lernbehinderte im Ostteil der Stadt bzw. in Schul-Hort-Projekte, die derzeit nur im Westteil der Stadt existieren und an die Comenius-Schule, eine Schule für Lernbehinderte in Berlin-Wilmersdorf, angeschlossen sind. Weitere ca. acht Prozent lernen in einer Grundschule. Der Prozentsatz der Zugehörigkeit der Schüler zu den Schularten hat sich demnach im Vergleich zum Schuljahr 1993/94 nicht bedeutend verändert. Nach wie vor unterscheidet sich die von uns betreute Schülergruppe in ihrer Zugehörigkeit zu den Schularten prozentual gravierend von der, die von unseren Kolleginnen im Westteil der Stadt betreut wird.

2. Zu Schwerpunkten unserer Arbeit 

Im Schuljahr 1994/95 stand die Suche nach geeigneten Schulen und das Schaffen von günstigen Bedingungen für zukünftige Lernanfänger stärker im Vordergrund als im Schuljahr zuvor. Dabei zeigten sich die Kolleginnen der Schulen sehr einsatzbereit und kooperativ. Das Fehlen von Schulhelfern für die Begleitung von Kindern mit autistischen Zügen in den Grundschulen und den Schulen für Lernbehinderte setzte aber Integrationsbestrebungen objektive Grenzen. Derzeit werden nur sechs der zehn Kinder, die dringend der Unterstützung durch einen Schulhelfer bedürfen, von einem stundenweise oder während der gesamten Unterrichtszeit begleitet.

Da es zudem noch keine den Schul-Hort-Projekten vergleichbaren Einrichtungen im Ostteil der Stadt gibt, wird der Anteil von Kindern und Jugendlichen in Schulen für Geistigbehinderte ungerechtfertigt hoch bleiben. Die in nicht ausreichender Zahl zur Verfügung stehenden Schulhelfer und das Fehlen von Plätzen in Schul-Hort-Projekten wird uns zukünftig noch stärker belasten: Neben den zwei vom Schulbesuch zurückgestellten Kindern sind uns bereits jetzt vier weitere Schulanfänger für das Schuljahr 1996/97 bekannt, für die wir einen geeigneten Ort der Beschulung finden müssen.

Als äußerst erschwerend für unsere Arbeit hat sich zudem erwiesen, daß drei Schulhelfer im Laufe des Schuljahres für unsere Kinder nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Entscheidung trafen die Kinder mit autistischen Zügen, die Klassenlehrerinnen und die Ambulanzlehrerinnen unerwartet. Es wurden keine Gründe für das Abziehen der Schulhelfer bekannt und keine alternativen Angebote im Interesse der Kinder unterbreitet. Gerade Kinder mit erheblichen Kontakt- und Beziehungsproblemen benötigen aber für eine gute Entwicklung eine kontinuierliche Begleitung durch eine feste Bezugsperson.

Die bisher von uns geleisteten zwei Jahre ambulanter Tätigkeit haben bisher noch nicht ausgereicht, alle Mitarbeiter des Schulpsychologischen Dienstes und der Sonderkindertagesstätten flächendeckend von unserer Tätigkeit zu informieren. Die Mehrheit der Schulanfänger wurde uns deshalb erst im späten Frühjahr gemeldet. Eine gründliche Vorbereitung der Einschulung ist zu diesem Zeitpunkt kaum noch möglich. Das führt zu einer Häufung von Problemen für die betroffenen Kinder.

Einen Schwerpunkt unserer Arbeit stellte erneut die Vermittlung bei Kommunikationsproblemen zwischen Pädagogen und Schulleitung oder Schulrat sowie Pädagogen und Eltern im Sinne des Kindes oder Jugendlichen. Diese Schwierigkeiten zeigten sich insbesondere beim Erkennen, Beantragen und Durchsetzen aller Möglichkeiten, die eine Integration des Kindes mit autistischen Zügen in eine bestimmte Schulform ermöglichen bzw. Entlastungen in akuten Krisensituationen bringen.

Wichtiger Bestandteil unserer Arbeit waren zudem die Teamberatungen mit unseren Kolleginnen im Westteil der Stadt im 14-tägigen Abstand, die Gespräche mit den Mitarbeiterinnen der Ambulanz des Vereins ‚Hilfe für das autistische Kind‘ e.V., die alle vier Wochen stattfanden sowie die Arbeitstagungen der Ambulanzlehrerinnen und der Lehrer aus den Schul-Hort-Projekten.

Aufgrund unserer Erfahrungen im Schuljahr 1993/94 hatten wir Empfehlungen formuliert, deren Umsetzung die schulische Situation der von uns betreuten Kinder verbessern sollten. Folgende Möglichkeiten sahen wir im vergangenen Schuljahr, ihnen zu folgen:

3. Unsere Empfehlungen für die Zukunft 

Aufgrund unserer Erfahrungen empfehlen wir

a. Die Integration von Kindern und Jugendlichen in Schulen für Lernbehinderte und Grundschulen durch den Einsatz von Schulhelfern in größerer Anzahl zu ermöglichenFür ein Kind mit autistischen Zügen sehen wir in der Begleitung durch einen Schulhelfer die Voraussetzung für den erfolgreichen Besuch einer Schule für Lernbehinderte oder einer Grundschule. Nach unseren Erfahrungen ist die Beantragung und Durchsetzung dieses Schulhelfereinsatzes für uns regelmäßig mit enormen Schwierigkeiten verbunden. Wie wir bereits ausführten, ist der Bedarf nach Begleitung durch Schulhelfer bei den von uns betreuten Kindern derzeit nicht gedeckt. In zwei Fällen waren Bezirksämter durch Kostenübernahme im Rahmen des BSHG bereit, einen Einzelfallhelfer in begrenztem Stundenumfang bzw. kurzzeitig für den Einsatz in der Schule zu finanzieren. Aufgrund der Einschulungen von Kindern mit autistischen Zügen in den nächsten Schuljahren erwarten wir eine noch beträchtliche Erhöhung des Bedarfs. b. Einrichtung von Projekten für Kinder und Jugendliche mit autistischen Zügen im Ostteil der StadtDazu gehört der Aufbau einer Frühfördergruppe, um Kinder mit autistischen Zügen, die noch keine Gruppenerfahrung haben, die in einer Kindertagesstätte nicht ausreichend gefördert werden können, bzw. die so schwer behindert sind, daß sie eine Kleinstgruppe mit hohem Betreuungsaufwand durch Fachpersonal brauchen, langfristig und zielgerichtet zur Schulreife führen.

Parallel dazu sollte der Aufbau eines Schul-Hort-Projektes für autistische Kinder im Unterstufenbereich entstehen, das an das Förderzentrum Friedrichshain angeschlossen wird.

Das eingangs nachgewiesene rasche Ansteigen der Meldungen von jüngeren Kindern mit autistischen Zügen weist deutlich auf den steigenden Bedarf vielfältiger Beschulungs- und Betreuungsmöglichkeiten hin. Ein Schul-Hort-Projekt der o.g. Altersgruppe würde aus unserem derzeit betreuten Klientel für mindestens sechs Kinder eine deutliche Verbesserung der ganztägigen Förderung und damit ihrer Persönlichkeitsentwicklung bedeuten.

Auch ein Folgeprojekt für Schüler der Mittelstufe muß angedacht werden.

c. Information der Mitarbeiter der Sonderkindertagesstätten über unsere Arbeit, damit uns künftige Schulanfänger frühzeitig gemeldet werden können.