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Erfahrungsbericht über die Tätigkeit als Ambulanz- und Beratungslehrerinnen für Kinder und Jugendliche mit autistischen Zügen im Schuljahr 1993/94 (in den östlichen Bezirken Berlins)

Birgit Frantz, Dr. Brita Schirmer

Inhalt

1. Tätigkeiten der Ambulanzlehrerinnen
2. Die Schulsituation der Kinder mit einer autistischen Behinderung im Ostteil der Stadt in den Jahren bis 1989 aus unserer Sicht
2.1 Zur Diagnostizierung der Kinder mit autistischer Behinderung
2.2 Zur Förderung der Kinder mit autistischer Behinderung
2.3 Zur Aus- und Fortbildung von Pädagogen 1  auf dem Gebiet des Autismus
3. Die derzeitige Situation der uns bekannten Schulkinder mit autistischer Behinderung und der Pädagogen, die sie unterrichten
3.1 Angaben über die Schüler
3.2 Die Situation der Lehrer und abgeleitete Schwerpunkte unserer Arbeit
4. Unsere Empfehlungen für die Zukunft
 

1. Tätigkeiten der Ambulanzlehrerinnen

Im Rahmen der sonderpädagogischen Förderung behinderter Schüler wurde auch im Ostteil Berlins ab 1990 das Ambulanzlehrersystem aufgebaut. Die Erfahrungen der zwei Ambulanzlehrerinnen für autistisch behinderte Schüler im Westteil der Stadt, die erwartete Zahl von Betroffenen im Ostteil und das besondere Verständnis von Frau Safadi für die Problematik der Beschulung autistisch Behinderter veranlaßte die Senatsschulverwaltung, auch in diesem Teil der Stadt zwei Kolleginnen mit der Betreuung autistischer Schüler zu beauftragen. Die beiden Lehrerinnen wurden dem Sonderpädagogischen Förderzentrum Friedrichshain (3. Schule für Lernbehinderte) zugeordnet. Nach einer längeren Hospitationsphase in einem Schul-Hort-Projekt für autistische Kinder und der Anleitung durch die bereits erfahrenen Kolleginnen Frau Finck. Frau Frangos und Frau Ohder begannen wir im Schuljahr 1993/94 unsere Tätigkeit als Ambulanzlehrerinnen für autistisch behinderte Schüler. In der Folge wurden wir mit einem Beratungsbedarf der Kollegen konfrontiert, den wir weit unterschätzt hatten. Inhalt unserer Arbeit ist es, Lehrer autistisch behinderter Schüler gezielt zu beraten, um dem Förderbedarf dieser Schüler bestmöglich gerecht zu werden. Dazu gehören folgende Tätigkeiten:

2. Die Schulsituation der Kinder mit einer autistischen Behinderung im Ostteil der Stadt in den Jahren bis 1989 aus unserer Sicht

Die unter 2. folgenden Ausführungen geben die subjektive Sicht der Autorinnen wieder, empirische Untersuchungen liegen ihnen nicht zugrunde. Die Ausführungen zur Schulsituation scheinen uns aber notwendig, um die derzeitige Situation der Lehrer und Schüler verständlich werden zu lassen.

2. 1 Zur Diagnostizierung der Kinder mit autistischer Behinderung

Nach unseren Erfahrungen wurden in der DDR Kinder mit einer autistischen Behinderung weder systematisch diagnostiziert, noch erhielten sie die Möglichkeit einer besonderen Früherziehung und Förderung. Angaben zur Häufigkeit dieser Kinder in der ehemaligen DDR schwanken zwischen 1:10000 und 1 : 5000. 2  Weniger als ein Drittel der von uns derzeit betreuten Kinder hatte die Diagnose Autismus, bevor uns das Kind zum ersten Mal vorgestellt wurde.

2.2 Zur Förderung der Kinder mit autistischer Behinderung

Die von uns begleiteten Kinder besuchten vor der „Wende“ zumeist eine sogenannte Tagesstätte für schulbildungsunfähige, förderungsfähige Kinder mit dem Ziel, ein höchstmögliches Maß an Selbständigkeit zu erreichen. Im Mittelpunkt standen die Förderung im lebenspraktischen Bereich und die Befähigung zum Ausführen einfacher produktiver Tätigkeiten unter geschützten Bedingungen. Die Pädagogen arbeiteten zumeist mit großen Engagement und viel Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse dar Kinder. Diese Tagesstätten wurden später zu Schulen für Geistigbehinderte. Es kann angenommen werden. daß die Anzahl autistischer Kinder in den Polytechnischen Oberschulen, den Hilfsschulen, den Schwerhörigen- und Gehörlosenschulen, den Sehschwachen- und Blindenschulen, den Körperbehinderten- und Sprachheilschulen und den Ausgleichsklassen gering war, bzw. diese Kinder unter einer anderen Fragestellung diagnostiziert worden waren. Spezielle Einrichtungen zur schulischen Betreuung und Förderung ausschließlich für autistische Kinder gab es in der DDR nicht.

2.3 Zur Aus- und Fortbildung von PädagogInnen auf dem Gebiet das Autismus

Fragen des Autismus wurden unseres Wissen in der Ausbildung von Unterstufenlehrern und Sonderpädagogen bestenfalls am Rande erwähnt. Fachliteratur war nur in äußerst geringem Umfang zugänglich. Diese Situation änderte sich in einigen Universitäten Ende der 80er Jahre. (nach oben )

3. Die derzeitige Situation dar uns bekannten Schulkinder mit autistischer Behinderung und der Pädagogen, die sie unterrichten

Zu Beginn unserer Arbeit erschien es uns notwendig, die autistischen Kinder in den Schulen ausfindig zu machen und abzuklären, ob unsere Hilfe benötigt wird. Einige Lehrer hatten sich im Schuljahr 1992/93 um Hilfe an Frau Finck und Frau Frangos gewandt und waren uns auf diesem Wege bereits bekannt. Mit einem Informationsblatt über unser Tätigkeitsfeld als Ambulanzlehrerinnen für Kinder und Jugendliche mit autistischen Zügen wendeten wir uns im August 1993 an alle Schulrate für Grund- und Sonderschulen mit der Bitte, die Schulleiter über uns und unsere Tätigkeit zu informieren. Bei einer großen Zahl wurden wir persönlich vorstellig. In der Folge baten uns weitere Lehrer um Unterstützung. Sowohl die Beratungstätigkeit als auch die durchgeführten Fortbildungen bei Gesamtkonferenzen und Studientagen ließen die Anzahl der gemeldeten Kinder rasch ansteigen.

3.1 Angaben über die Schüler

Im Schuljahr 1993/94 wandten sich insgesamt die Lehrer von 51 Kindern um Beratung und Unterstützung an uns. Neun der Mädchen und Jungen haben keine autistische Behinderung. Die Tatsache, daß sich die von den Pädagogen vermutete autistische Behinderung bei dem überwiegenden Teil der Kinder bestätigt hat, spricht für die große Umsicht und genaue Beobachtung der unterrichtenden Kollegen. Unter den von uns betreuten Schülern mit autistischer Behinderung sind 15 Mädchen und 27 Jungen. Das von anderen Autoren beschriebene Verhältnis Mädchen : Jungen von 1:3 oder 1:4 kann damit bei der von uns betreuten Klientel derzeit nicht bestätigt werden.

Die Altersverteilung der Jungen und Mädchen ist wie folgt:

Alter in Jahren    6    7/8    9/10    11/12    13/14    15/16    17u.ä.    n.b.
Anzahl               1      6       8        11          3           5        7           1

u.ä. – und älter; n.b. – nicht bekannt

Diese Verteilung wirft viele Fragen auf und provoziert Hypothesen. Auffällig ist die große Zahl elf- und zwölfjähriger Schüler. Für neun der von uns betreuten Kinder wurden im Schuljahr 1993/94 Förderausschüsse einberufen. Bei drei Jungen standen die Bedingungen für eine erfolgreiche Einschulung im Mittelpunkt. Zwei dieser zukünftigen Schüler werden im Schuljahr 1994/95 eine Integrationsklasse, einer die Schule für Geistigbehinderte besuchen.

Die von uns betreuten Schüler besuchen folgende Schularten

Schultyp       SG    SL    SK    SGH    G
Anzahl          29     6       2        1       4

SG-Schule für Geistigbehinderte, SL-Schule für Lernbehinderte, SK-Schule für Körperbehinderte, SGH-Schule für Gehörlose, G-Grundschule

In der Zugehörigkeit zur Schulart unterscheidet sich die von uns betreute Schülergruppe grundsätzlich von der, die von unseren Kolleginnen im Westteil der Stadt betreut wird. Diese Situation ist das Resultat der unterschiedlichen Schulpolitik bis vor wenigen Jahren und damit historisch gewachsen. Die Kinder, die in den nächsten Jahren eingeschult werden, werden auch das oben skizzierte Bild aller Wahrscheinlichkeit nach beträchtlich verändern. Das Fehlen von Schul-Hort-Projekten in den östlichen Stadtbezirken macht allerdings ein schnelles Ansteigen der Zahl autistisch behinderter Schüler in Schulen für Lernbehinderte unwahrscheinlich.

3.2 Die Situation der Lehrer und abgeleitete Schwerpunkt unserer Arbeit

Folgende Schwerpunkte in unserer Beratungstätigkeit haben sich im Schuljahr 1999/94 herauskristallisiert:

  1. Gestaltung von Fortbildungen auf dem Gebiet des Autismus,
  2. Unterstützung bei der Vermittlung einer differenzierten Diagnose zu geben, da häufig bei den Lehrern Unsicherheit über die fachliche Zuständigkeit für eine entsprechende Diagnose besteht,
  3. Kollegen in ihrer Arbeit zu bestärken und zu stützen, die die Verhaltensbesonderheiten der Kinder als persönliche Niederlage und Versagenssituation empfinden oder die sich im Lehrerkollegium isoliert fühlen, weil nicht alle Pädagogen ihrer Schule diese besondere Aufgabe mittragen,
  4. die Kompetenz der Lehrer beim Setzen von Bildungsschwerpunkten zu erhöhen. Im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit mit autistischen Kindern muß nicht die Vermittlung von Wissen auf der Grundlage eines Rahmenplanes stehen. Vielmehr sollten, ausgehend vom Entwicklungsstand das Kindes, die Dinge, die das Kind kann und tut, aufgegriffen und mit Tätigkeiten verbunden werden, bei denen es Schwächen zeigt.,
  5. Gespräche über ein realistisches Anspruchsniveau dem Kind gegenüber zu führen,
  6. bei Kommunikationsproblemen zwischen Pädagogen und Eltern im Sinne des Kindes zu vermitteln,
  7. entlastende Angebote in akuten Krisensituationen zu machen,
  8. die Lehrer beim Ausschöpfen aller Möglichkeiten, die eine Integration des autistisch behinderten Kindes in eine Schulform ermöglichen, zu unterstützen. (nach oben ) 

4. Unsere Empfehlungen für die Zukunft

Aufgrund unserer Erfahrungen empfehlen und wünschen wir uns

  1. das Thema Autismus in die Lehrerausbildung aufzunehmen bzw. umfassender zu behandeln.

  2. die Integration autistisch behinderter Schüler durch den Einsatz von Schulhelfern großzügiger zu unterstützen,

  3. einen Erfahrungsaustausch von Ambulanzlehrern für unterschiedlichste Behinderungen,

  4. verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Psychologen, Medizinern, Therapeuten,

  5. eine Sensibilisierung der Kinderärzte für das Problem Autismus, damit sie die Kinder frühzeitig zu einer differenzierten Diagnoseerstellung überweisen können,

  6. Einrichtungen für autistisch behinderte Kinder im Ostteil der Stadt, die wegen einer akuten Krisensituation keine Schule besuchen können. Es wäre zu überdenken, ob das Förderzentrum Friedrichshain (Partnerschule der Comenius-Schule) nicht auch Auftragsschule für die Beschulung dieser Kinder werden könnte.

  7. ein breiteres Angebot an nachschulischen Arbeits- und Wohnmöglichkeiten für diese Jugendlichen zu schaffen. (nach oben)

 

Anmerkungen

1  Um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, wird die männliche Form verwandt, auch wenn Personen beider Geschlechter gemeint sind.

2  Vgl. Eichhorn, G.; Goetze, R.; Klein. M.: Zu Problemen der Diagnostik, Erziehung und Bildung bei Kindern mit autistischem Syndrom. - Berlin: Volk und Wissen, 1982