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Autismus und NS-Rassengesetze in Österreich 1938: Hans Aspergers Verteidigung der »autistischen Psychopathen« gegen die NS-Eugenik

erschienen in Hans Aspergers Verteidigung der ‚autistischen Psychopathen’ gegen die NS-Eugenik. In: Die neue Sonderschule 47 (2002) 6, S. 460-464.

Dr. Brita Schirmer

In der Autismusforschung gibt es zwei Pioniere: Leo Kanner und Hans Asperger. Es herrscht derzeit Konsens darüber, dass beide unabhängig voneinander im Jahr 1943 anhand von Falldarstellungen ein eigenes Störungsbild bei Kindern beschrieben, zu dessen begrifflicher Kennzeichnung sie das Adjektiv autistisch verwandten. Die Arbeit Hans Aspergers war als Habilitationsschrift im Jahre 1943 eingereicht, allerdings erst 1944 veröffentlicht worden.

Der Begriff Autismus war bereits Jahrzehnte zuvor als Neologismus von Eugen Bleuler, einem Schweizer Psychiater, geprägt worden. In seiner Schrift Dementia Praecox oder Gruppe der Schizophrenien, erschienen im Jahre 1911 in Leipzig und Wien, bezeichnete er damit eines der Grundsymptome bei Schizophrenien:

»Eine ganz besondere und für die Schizophrenie charakteristische Alteration aber erleidet das Wechselverhältnis des Binnenlebens mit der Außenwelt. Das Binnenleben bekommt ein krankhaftes Übergewicht (Autismus).«

Es kann als sicher angenommen werden, dass Leo Kanner und Hans Asperger die fachwissenschaftlich äußerst bedeutsame Arbeit Eugen Bleulers kannten. Bei Hans Asperger kann dies nachgewiesen werden, er bezog sich in seiner Habilitationsschrift explizit auf sie:

»In dem Bemühen, jene Grundstörung zu finden und begrifflich zu fassen, von der aus die Persönlichkeit dieser Gruppe abartiger Kinder durchorganisiert erscheint, haben wir die Bezeichnung ‚Autistische Psychopathen’ gewählt. Der Name leitet sich von dem Begriff des Autismus her, jener bei Schizophrenen in exremer Weise ausgeprägten Grundstörung. Der Ausdruck – unseres Erachtens eine der großartigsten sprachlichen und begrifflichen Schöpfungen auf dem Gebiet medizinischer Namensgebung – stammt bekanntlich von Bleuler.«

Die fast gleichzeitige Verwendung des Adjektives autistisch bei Leo Kanner und Hans Asperger zur Kennzeichnung einer bislang unbekannten Störung bei Kindern kann also keinesfalls als zufällig bezeichnet werden.

Entgegen der Auffassung von der erstmaligen Beschreibung und Benennung eines Zustandsbildes aus dem Formenkreis des Autismus schilderte Hans Asperger aber nicht erst 1943, sondern bereits fünf Jahre zuvor die Besonderheiten so genannter »autistischer Psychopathen« und verwendete auch diese Bezeichnung. Am 03. Oktober 1938 hatte er in der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätsklinik Wien, deren Leitung er seit 1932 inne hatte, einen Vortrag gehalten, in dem er anhand eines Fallbeispiels die Charakteristika der »autistischen Psychopathen« darstellte. Der Vortrag, der unter dem Titel Das psychisch abnorme Kind im gleichen Jahr in der Wiener Klinischen Wochenzeitschrift abgedruckt wurde, muss heute aus drei Gründen gewürdigt werden:

Zum Ersten findet man hier erstmalig die Symptomatik dessen beschrieben, was man heute Asperger-Syndrom nennt. Anhand eines Fallbeispiels skizzierte Hans Asperger bereits einen großen Teil der Symptome, die er in seiner Habilitationsschrift im Jahre 1943 als kennzeichnend für die »autistischen Psychopathen« darstellt: die Einengung der Beziehungen zur Umwelt, die so genannten »Bosheitsakte«, die motorische Ungeschicklichkeit, das gute logische Denkvermögen und die gute sprachliche Ausdrucksfähigkeit, die Sonderinteressen, Besonderheiten in der Wahrnehmung und im Lernen und die erbliche Disposition der Störung. Andere Charakteristika, wie die Konstanz der Symptomatik, die nach seiner Beurteilung schon vom zweiten Lebensjahr an und über die gesamte Lebenszeit hinweg bestehen bleibt, die Besonderheiten des Blicks und der Verwendung von Mimik und Gestik, das von ihm beobachtete reife Kunstverständnis und Auffälligkeiten in der Sexualität beschrieb er erst in seiner Habilitationsschrift. Dies kann sowohl Hans Aspergers damaligem Forschungsstand als auch dem zur Verfügung stehenden Druckumfang geschuldet sein.

Vermutete man bislang, dass in der Literatur die ersten Beschreibungen eines eigenständigen Syndroms aus dem Kontinuum autistischer Störungen von Leo Kanner im Jahre 1943 und etwas später von Hans Asperger gefunden werden können, muss dies nun für Hans Asperger vordatiert werden. Seine Bedeutung als Pionier der Autismusforschung, als der er immer ein wenig im Schatten Leo Kanners stand, wird damit deutlich erhöht. Leo Kanner, der im Jahre 1924 in die USA ausgewandert war, hatte seinen Aufsatz in englischer Sprache geschrieben und wurde damit international bald bekannt. Hans Aspergers in deutscher Sprache publizierte Schriften hingegen wurden zunächst wenig beachtet. Erst als Lorna Wing seine Habilitationsschrift ins Englische übersetzte, fand seine Arbeit größere Resonanz. Den von Hans Asperger gewählten Begriff autistische Psychopathie ersetzte Lorna Wing durch die Bezeichnung Asperger-Syndrom, die bis heute geläufig ist.

Im Kontext des bislang relativ unbekannten Vortrages von Hans Asperger muss nun auch gefragt werden, aus welchem Grund Leo Kanner in seiner Schrift von 1944 darauf verwies, dass er seit 1938, ausgerechnet dem Jahr also, in dem Hans Aspergers Aufsatz erschien, auf eine Anzahl von Kindern aufmerksam wurde, deren Zustand sich so markant und in Einzelheiten von allem anderen unterschied, was bis dahin berichtet wurde:

»Since 1938, there have come to our attention a number of children whose condition differs so markedly and uniquely from anything reported so far, that each case merits – and, I hope, will eventually receive – a detailed consideration of its fascinating peculiarities.«

Leo Kanner erklärte diese Jahreszahl in seinem Text nicht weiter, es sollte aber zumindest in Betracht gezogen werden, dass der Österreicher fachwissenschaftlichen Publikationen seines Herkunftslandes verfolgt und von Hans Aspergers Aufsatz Kenntnis hatte. Damit soll an dieser Stelle keinesfalls ein Plagiatsvorwurf gemacht werden, möglicherweise eröffnete Hans Aspergers Aufsatz Leo Kanner aber einen neuen Blickwinkel auf einige seiner Kinder.

Zweitens muss neben der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Vortrages auch gewürdigt werden, dass er ganz offensichtlich dem Schutz der ihm anvertrauten Kinder diente. Im Kontext des Gesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13.03.1938 drohte nun auch in Österreich die Durchsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (14.07.1933), das am 01.01.1934 in Kraft trat. Zwar blieb nach Artikel II des erstgenannten Gesetzes das geltende Recht in Österreich zunächst weiter in Kraft, die Einführung des so genannten »Reichsrechtes« stand aber in Aussicht und zu befürchten. Tatsächlich wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wie es Hans Asperger in seinem Vortrag vorhergesehen hatte, am 01.01.1940 auch in Österreich wirksam. Die rassenhygienischen Ideen der Nazis waren bereits im Jahre 1938 in Österreich massiv in die Politik und Wissenschaft eingedrungen. Schon im Jahre 1924 hatte sich an der Universität Wien, an der ja auch Hans Asperger tätig war, eine Wiener Gesellschaft für Rassenpflege gegründet, die im Jahre 1938 ihre enge Verbindung mit der Nationalsozialistischen Bewegung bekannte und zugleich eine rege Vortragstätigkeit zeigte. Nachdem Österreich im März 1938 Teil des Deutschen Reiches geworden war, wurden »erb- und rassenbiologische Lehren« offiziell in den Forschungs- und Lehrbetrieb integriert. Es begann eine breite Propaganda, um den Boden für die verbrecherischen Absichten und Praktiken in der Bevölkerung zu bereiten.

Vor diesem Hintergrund muss Hans Aspergers Vortrag als ein Plädoyer für seine Schützlinge und deren Erziehung verstanden werden. In einer geschickten Argumentation verwies Hans Asperger zunächst in distanzierter Art und Weise auf die zum damaligen Zeitpunkt aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Psychiatrie. Dann aber wechselte er die Perspektive vom »Standpunkt der Volksgesundheit« zum »Standpunkt der abnormen Kinder« – ein Blickwinkel, der zu dieser Zeit ungewöhnlich war und keinesfalls mit der in dieser Zeit auch an der Universität Wien verbreiteten faschistischen Ideologie des »lebensunwerten Lebens« vereinbart werden kann. Damit wurde es ihm aber nun möglich aufzuzeigen, dass diese Kinder gefördert werden müssen:

»Wieviel können wir für diese Menschen leisten? soll die Frage sein. Und wenn wir mit all unserer Hingabe ihnen helfen, so tun wir damit auch unserem Volk den besten Dienst; nicht nur dadurch, daß wir verhindern, daß jene durch ihre dissozialen und kriminellen Taten die Volksgemeinschaft belasten, sondern auch dadurch, daß wir zu erreichen suchen, daß sie als arbeitende Menschen ihren Platz in dem lebendigen Organismus des Volkes ausfüllen.«

Er bezeichnete es also als den »besten Dienst« an der »Volksgemeinschaft«, wenn man diesen Kindern mit aller Hingabe hilft. Der Hinweis darauf, dass sie als »arbeitende Menschen ihren Platz in dem lebendigen Organismus des Volkes ausfüllen« können, wird sich gegen das Argument der faschistischen Ideologen gerichtet haben, dass Menschen mit Behinderungen so genannte »Fürsorgekosten« verursachen, die die so genannten »gesunden Volksgenossen« belasten. Schon Schüler der Volksschule mussten die entstehenden Kosten für die Versorgung von »Krüppeln«, »Blinden« und »Geisteskranken« in Textaufgaben errechnen.

Hans Asperger verwies auch nachdrücklich darauf, dass nicht alles »abnorme« zugleich »minderwertig« sein muss und entwertete so ein wichtiges Argument, von dem diesen Kindern im Zuge des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Gefahr drohte. Heute weiß man, dass die zwangsweise Sterilisation von so genannten »Erbkranken« die erste verbrecherische Maßnahme war, die die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung auf dem Gebiet der »Erb- und Rassenpflege« durchführten. Es folgte später die Vernichtung dieser Menschen.

»Minderwertig« – dieser Begriff, im Kontext von Menschen verwendet, erschreckt heute. Die Vorstellung der Minderwertigkeit von Menschen ist das Ergebnis des Versuchs, eine Werteskala in die Anthropologie und Ethnologie einzuführen. Es ging nicht nur darum, die Verschiedenheit von Menschen festzustellen und zu beschreiben, sondern zudem eine Wertigkeit zu konstruieren. Hans Asperger lehnte die Bezeichnung »minderwertig« ganz augenscheinlich ab und machte das noch einmal besonders deutlich, indem er das Adjektiv in Anführungszeichen setzte.

Möglicherweise ist es also keinesfalls zufällig, dass sich Hans Asperger mit den »autistische Psychopathen« einer Gruppe von Kindern zuwandte, deren Entwicklungsperspektive eher positiv zu sein schien, als die der von Leo Kanner geschilderten – obwohl auch Donald, der erste von Leo Kanner geschilderte Junge, wie man heute weiß, später ein unabhängiges und selbstständiges Leben führen konnte. Es sollte in Betracht gezogen werden, dass Hans Asperger sein wissenschaftliches Interesse auf diese Kinder richtete, in der Hoffnung, sie so vor dem Zugriff der Euthanasie-Anhänger zu schützen.

In seinem Vortrag am 03. Oktober 1938 ging es ihm allerdings nicht nur um den Schutz dieser Kindergruppe, sondern zugleich aller so genannten »Psychopathen«. In einem geschickten argumentativen Schachzug legt er präventiv den Ärzten, die als Gutachter Entscheidungen für das in Österreich noch gar nicht in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses tätig werden würden, nahe, nicht nur einen Fragebogen oder einen Intelligenzquotienten, sondern in erster Linie die gesamte kindliche Persönlichkeit und alle Fähigkeiten des Kindes in Rechnung ziehen:

»Habe ich im obigen einen Typus geschildert, dessen wesentliche Abnormität begründet ist in einer Störung der Harmonie zwischen Verstand und Instinkt im Sinne einer Instinktstörung, so gibt es in der Psychopathologie des Kindesalters nicht ganz selten einen Typus, der in fast allen Zügen den Gegensatz des eben Geschilderten darstellt: Diese Kinder sind intellektuell unterdurchschnittlich entwickelt (bis zur Debilität), wobei hier unter Intelligenz die abstrakte Intelligenz verstanden ist, während der praktische Verstand, kurz gesagt, alles was mit dem Instinkt zusammenhängt, darum auch die praktische Brauchbarkeit, aber auch die Werte des Gemütes relativ viel besser entwickelt sind. Diese letzten Fälle sind wichtig – oder werden es bei uns werden, wenn das ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ auch bei uns in Kraft tritt. Wird der Arzt als Begutachter in solchen Fällen vor eine Entscheidung gestellt, so wird er diese nicht allein nach dem Ergebnis der Beantwortung eines Fragebogens oder nach der Ziffer des Intelligenzquotienten treffen dürfen, sondern in erster Linie nach seiner Kenntnis der kindlichen Persönlichkeit, eine Kenntnis, die alle Fähigkeiten des Kindes, nicht nur die abstrakte Intelligenz in Rechnung stellt.«

Doch dieser frühe Aufsatz ist für die Autismusforschung noch aus einem dritten Grund bedeutsam: Bereits im Jahre 1938 beschrieb Hans Asperger pädagogische Prinzipien in der Arbeit mit den »autistischen Psychopathen«, die bis zum heutigen Tage als gültig akzeptiert werden können, z.B. das vorrangige Ansprechen des Verstandes vor den Emotionen oder die Regelhaftigkeiten im Tagesablauf und dessen Vorhersehbarkeit.

Als Leiter der Heilpädagogischen Abteilung der Universitäts-Kinderklinik Wien verband er medizinische und pädagogische Förderansätze. Der Begriff Heilpädagogik umfasst in Österreich mehr als nur Sonderschulpädagogik. Es wird darunter ebenfalls das verstanden, was in der Bundesrepublik Jugendpsychiatrie heißt.

Es bleibt damit nicht nur die wissenschaftliche Leistung Hans Aspergers zu würdigen sondern auch seine Menschlichkeit und seinen mutigen Einsatz für die ihm anvertrauten Kinder in Zeiten, in denen dies keinesfalls selbstverständlich und ungefährlich war.