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Für verschiedene Gruppen von Menschen kann das Internet ein Medium der Kommunikation sein, mit dessen Hilfe sie Probleme kompensieren können, die ihnen die verbale Kommunikation erschweren oder unmöglich machen. Dazu können eine eingeschränkte Mobilität gehören oder, wie bei Menschen mit autistischer Behinderung, Besonderheiten in der Wahrnehmung.
Kommunikation ist ein Kennzeichen alles Lebendigen. Wenn die Pädagogik das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ verfolgt, gehört dazu, Menschen dabei zu unterstützen, Wege des Dialoges mit anderen zu finden. Dies ist notwendig im Rahmen der Befähigung, ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Eigene Dialogwege zu finden kann bedeuten, dass Hilfestellungen zur Kompensation von Einschränkungen notwendig sind, die den Austausch mit anderen, also auch eine gesellschaftliche Integration, erschweren oder unmöglich machen. Im Folgenden soll das Internet als eine solche technische Hilfe zum Nachteilsausgleich für verschiedene Gruppen von Menschen betrachtet werden. Dies soll exemplarisch am Beispiel von Menschen mit autistischer Behinderung vorgeführt werden.
Autismus ist eine schwere Entwicklungsstörung. Die Hauptsymptome sind abnorme soziale Beziehungen, eine Beeinträchtigung der Kommunikation und eingeschränkte Interessen und Handlungen. Es handelt sich um eine Summationsdiagnose, d.h. mehrere Auffälligkeiten aus allen drei Bereichen müssen gemeinsam auftreten, damit von dem Vorliegen einer autistischen Behinderung ausgegangen werden kann. Die Schwere der Behinderung und die Kombination der verschiedenen Auffälligkeiten sind allerdings individuell sehr unterschiedlich. Man kann davon ausgehen, dass vier bis fünf von 10.000 Menschen diese Behinderung haben. Jungen sind drei bis vier mal häufiger betroffen als Mädchen. Es gibt derzeit noch kein Erklärungsmodell, das ihr Entstehen schlüssig belegen kann.
Das Internet wird in der aktuellen Diskussion vorrangig als Medium in den Bereichen der Bildung und der Jugendarbeit betrachtet.
Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Arten eines pädagogischen Interneteinsatzes unterscheiden, eine inhaltliche und eine methodische. Das World Wide Web ist ein Teil des Internets und kann als eine Art elektronischer Bibliothek genutzt werden. Es ist möglich, auf diese Weise schnellen Zugang zu Informationsquellen in Form von Bildern, Dateien und Videos zu bekommen. Methodisch lässt sich das Internet beispielsweise in sogenannten Internetprojekten einsetzen. Dabei kommunizieren Schüler mit anderen Schülern über den E-Mail Dienst. Dies ist wahrscheinlich der bekannteste und verbreitetste Dienst des Internets. E-Mail ist die Abkürzung für electronic Mail, was so viel heißt wie elektronischer Brief. Über diesen Dienst kann man elektronische Nachrichten, Bilder und Dateien verschicken und empfangen. E-Mails sind innerhalb kürzester Zeit am Ziel, unabhängig davon, wie weit Absender und Empfänger voneinander entfernt sind. Der Empfänger muss mit seinem Computer nicht online sein, sondern er kann die Nachricht abholen, wann immer er das nächste Mal im Internet ist. Schüler können so in Kontakt treten, auch wenn sie sich an anderen Orten, oft in anderen Ländern befinden. Es besteht die Möglichkeit, Fremdsprachenkenntnisse anzuwenden. Viele Lehrer berichten von einer hohen Motivation ihrer Schüler.
An dieser Stelle soll aber ein weiterer Aspekt herausgestellt werden, der durch die bereits dargestellten Einsatzmöglichkeiten nicht erfasst wird: Das Internet als Nachteilsausgleich für bestimmte Personengruppen.
Wer sich auf die Suche nach Aussagen von Menschen mit autistischer Behinderung macht, dem fällt auf, dass zahlreiche von ihnen das Internet augenscheinlich nicht nur als Möglichkeit nutzen, um World Wide Web Informationen zu erhalten, sondern im Internet eine Möglichkeit sozialer Interaktion gefunden haben und untereinander und mit Professionellen in einen lebhaften Austausch treten. Dies geschieht bspw. in den einschlägigen autismus-Newsgroups. Diese sind öffentliche Diskussionsforen. Man kann sie mit einem schwarzen Brett vergleichen. Ist man an einer Newsgroup interessiert, kann man sich anmelden und bekommt ab diesem Zeitpunkt alle Nachrichten aus diesem Forum. Will man eine Nachricht herausgeben, muss man sie per E-Mail senden. Es handelt sich um zeitversetzte Gesprächsforen, d.h. man kann seine Antwort oder seinen Kommentar zu einer Meldung geben, wann man möchte.
Die Tatsache, dass viele Menschen mit autistischer Behinderung diese Möglichkeit nutzen, ist insbesondere deshalb erstaunlich, da eines der zentralen Merkmale einer autistischen Behinderung in der Störung des Sozial- und Kontaktverhaltens besteht und man im Allgemeinen davon ausgeht, dass die Betroffenen nur wenig Interesse an sozialer Interaktion haben.
Dessen ungeachtet findet man immer wieder Menschen mit autistischer Behinderung, die augenscheinlich auch den e-mail-Kontakt zu anderen suchen, wie das nachfolgende Beispiel verdeutlichen mag:
„Ich heiße Yelda Ökten und bin 17 Jahre alt. Ich gehe in die Werkstufe der Adolf-Rebl-Schule in Pfaffenhofen. Ich schreibe viel am Computer und gehe sehr gerne ins Internet. Ich habe auch eine e-mail-Adresse und würde mich freuen, wenn mir möglichst viele FC-Schreiber eine E-Mail schicken würden. Meine e-mail-Adresse lautet: Yelda.Oekten@gmx.de Ich freue mich über Eure Post Eure Yelda“2
Viele Menschen mit autistischer Behinderung haben ihre eigene Homepage erstellt oder präsentieren eigene Aufsätze im Internet.3 Damit öffnen sie sich nicht nur innerhalb eines engen sozialen Rahmens, sondern präsentieren sich potentiell weltweit. Zumindest diese Menschen zeigen ein deutliches Interesse am Kontakt und am Austausch mit anderen.
Der Internet Relay Chat ist ein Dienst, der die synchrone Kommunikation zwischen mehreren Nutzern mittels der Tastatur ermöglicht. Diese Kommunikation wird „chatten“ genannt. Um eine solche Kommunikation zu beginnen, muss man sich mit einem speziellen Chatprogramm in bestimmte Bereiche des Internets einwählen. Ähnlich wie bei den Newsgroups gibt es verschiedene Gesprächsthemen. Die Struktur dieses Dienstes wird durch die Simulation verschiedener Örtlichkeiten vorgegeben. Jedes Thema wird in einem eigenen Raum behandelt, den man virtuell betreten muss, wenn man sich beteiligen will. Warum diese Möglichkeit für Menschen mit autistischer Behinderung nicht von herausragender Bedeutung ist, wird im folgenden noch deutlich werden.
Angesichts der Beobachtungen stellt sich die Frage:
Ist das Internet für Kommunikationszwecke für diese Klientel besonders geeignet? Wenn ja, was macht diese Eignung aus?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden Aussagen von Menschen mit autistischer Behinderung untersucht, in denen sie von ihren Schwierigkeiten in der Kommunikation und den Kompensationsmöglichkeiten berichten. Zuerst stellt Susanne Nieß, eine junge Frau mit autistischer Behinderung, die zur Zeit in München Mathematik studiert, dar, auf welche Weise ihr Informationen am leichtesten zugänglich sind:
„Eine autistische Frau hat mir geschrieben, Schrift und Gebärdensprache seien ihr gemäße Kommunikationsformen, da sie sie sehen könne. Meine Anforderungen sind weit komplizierter und verwickelter: Einerseits kann ich so gut wie gar nicht visuell denken, sondern meine Art zu denken ist weitgehend akustisch: Ich höre das, was ich denken will, als gesprochene Sprache, und ich kann auch nur lesen, indem ich mir das, was ich lese, im Kopf vorlese, es also innerlich in gesprochene Sprache umwandle. Andererseits darf das, was ich wahrnehmen will, nicht eine von außen vorgegebene Zeit und Geschwindigkeit haben. Wenn ich lese kann ich das sehr schnell tun, aber ich kann die Geschwindigkeit selbst bestimmen und an schwierigen Stellen länger verweilen oder sie noch einmal lesen. Ich habe auch bei einer physikalischen Aufgabe, wenn die Angaben übersichtlich angeordnet sind, jederzeit Zugriff auf die Ausgangsgrößen. Gesprochene Sprache kann ich zwar verstehen, aber sie macht mir Probleme, weil dabei der Sprecher mir die Geschwindigkeit vorgibt, mit der ich ihn verstehen muss, und weil außerdem auch ich mit einer angemessenen Geschwindigkeit sprechen muss. Dabei gibt es nicht nur Probleme, weil mir vielleicht nicht so schnell das richtige Wort und die richtige Formulierung einfällt, sondern auch, weil meine Sätze oft so lang sind, dass ich am Ende den Satzanfang schon vergessen habe. Wenn ich schreibe, kann ich ihn dann noch einmal nachlesen, um den Satz korrekt zu Ende zu bringen, aber beim Sprechen ist der Satzanfang dann weg. Ich brauche also etwas, was seine Ausdehnung im Raum und nicht in der Zeit hat, was nicht mit einer bestimmten Geschwindigkeit kommt und dann wieder weg ist, sondern was dauerhaft da ist und da bleibt und worauf ich zur von mir selbst bestimmten Zeit Zugriff habe.[...] Die Sache ist also die: Ich brauche Informationen, die nicht in der Zeit sind, sondern dauerhaft da und jederzeit verfügbar sind und die ich mit meiner eigenen Geschwindigkeit machen kann, aber andererseits die im wesentlichen nicht visuell, sondern akustisch sind. Das heißt, die mir gemäße Form von Information ist geschriebene Sprache, die ich mir selbst vorlese, also doch wieder in etwas akustisches verwandle, aber eben mit meiner eigenen Geschwindigkeit.“4
Es wird deutlich, dass Besonderheiten der Wahrnehmung dazu führen, dass Susanne Nieß die geschriebene Sprache der gesprochenen vorzieht. Dies führt sie zu folgendem Schluss:
„Lesen ist nicht nur einfacher als Hören, sondern überhaupt eine der komfortabelsten Sachen für die Wahrnehmung, weil es einfach, eindeutig und geordnet ist.“5
Eine andere Frau mit autistischer Behinderung beschreibt ihre Schwierigkeiten bei der verbalen Kommunikation folgendermaßen:
„Ich habe auch Sprache erlernt, spreche aber so gut wie nichts. Man kann sich glücklich schätzen, wenn ich mir mal ein JA oder NEIN rauszwänge. Und das kommt dann total leise raus, so dass mein Gegenüber immer sehr gute Ohren haben muss. Aber schriftlich kann ich mich – wie du siehst – ziemlich gut äußern. Deshalb falle ich auch immer wieder diversen Abstempelungen zum Opfer. [...]
Mit der genannten B. schreibe ich mich nur. Also ich schreibe und sie ruft mich dann irgendwann mal an und spricht mit mir. Aber meistens ohne Antworten zu bekommen. Daran ist sie glücklicherweise gewohnt durch ihre beiden erwachsenen autistischen Kinder. Leider sind eben immer diese verfluchten Entfernungen so groß. Ich konnte mir schon vorstellen – oder ist es vielleicht wieder nur so ein Wunschtraum von mir -, dass wenn ich sie öfters sehen könnte, vielleicht doch eines Tages etwas zu ihr sagen könnte. Aber von 3mal im Jahr treffen funktioniert das leider nicht. In gewisser Hinsicht würde ich wohl auch unter FC-Schreiberin fallen, denke ich mir. Oder?? Ich bin auch froh, dass ich meinen eigenen Computer inzwischen habe, den ich so sehr zur Kommunikation zur Außenwelt benötige. Ich habe damals mit 14 Jahren angefangen, auf einer Schreibmaschine zu schreiben.“6
Die Verfasserin dieser Zeilen kann ihre Probleme bei der verbalen Kommunikation durch ein Ausweichen auf die Schriftsprache kompensieren. Weshalb sie nur wenig und leise sprechen kann, erklärt sie nicht.
Ein 26-jähriger Mann mit Asperger-Syndrom, einer Subgruppe aus dem Spektrum des Autismus, schildert seine Erfahrungen mit dem Internet so:
„Ich nutze seit 3 Jahren das Internet und habe seit dem gelernt mit der Umwelt zu kommunizieren ... es fällt mir auch wesentlich leichter“7
Bei allen Betroffenen wird deutlich, dass durchaus Interesse an der Kommunikation vorhanden ist. Es scheinen in erster Linie Schwierigkeiten in der Wahrnehmung in den Bereichen des Sehens, Hörens und der Intermodalität zu sein, die mit Hilfe des Internets kompensiert werden können. Diese Schwierigkeiten erschweren die Kommunikation in der Rolle des Rezipienten genauso wie in der Rolle des Produzenten. Als Sprecher muss man teils simultan, teils sukzessiv zur verbalen Äußerung nichtverbale Verhaltenskomponenten planen und ausführen, wie Blickkontakt, Gestik, Bewegungen, Abstand zum Gesprächspartner und kulturspezifische Restriktionen. Als Hörer muss man diese Informationen aus dem visuellen Bereich simultan zu den Höreindrücken verarbeiten und intermodal verbinden. Das Gelingen dieser komplexen Aufgabe ist also von der Wahrnehmung abhängig. Aus diesem Grund sollen zunächst überblickshaft verschiedene Aspekte der Wahrnehmungsveränderung von Menschen mit autistischer Behinderung in diesen Bereichen dargestellt werden.
Menschen mit autistischer Behinderung haben oft umfängliche und gravierende Besonderheiten in der Wahrnehmung. Die im Folgenden beschriebenen Wahrnehmungsbesonderheiten wurden auf der Grundlage der Analyse von Aussagen Betroffener identifiziert.
Bei dem Versuch, die Aussagen von Menschen mit autistischer Behinderung über ihre Schwierigkeiten beim Hören zu systematisieren, stößt man auf immer wiederkehrende Symptome. Dies sind:
Die auditive Überempfindlichkeit, auch Hyperakusis, beinhaltet nach Analyse der autobiographischen Belege drei Aspekte:
Alle drei Aspekte werden von den Betroffenen als äußerst quälend, zum Teil sogar als schmerzhaft dargestellt. Sie verwehren den Zugang zur Identifizierung der Bedeutung der Geräusche und sind von auffallend vielen Betroffenen belegt.
Nach der Sichtung der Belege muss man auch bei der Abschaltung von der Wahrnehmung zwischen zwei Formen unterscheiden:
Ergebnis beider Formen kann sein, dass die Betroffenen wie gehörlos erscheinen. Das Abschalten von der Wahrnehmung scheint ein Schutzmechanismus vor einer Überlastung des Organismus zu sein. Bei den Interpretationsproblemen handelt es sich im Wesentlichen ebenfalls um zwei Schwierigkeiten:
Jeder, der Kontakt mit Menschen mit autistischer Behinderung hat oder sich mit ihren Autobiographien beschäftigt, bemerkt zahlreiche Besonderheiten im Bereich ihrer visuellen Wahrnehmung. Es wurden folgende, unabhängig von verschiedenen Autoren beschriebene Schwierigkeiten gefunden:
Es würde den Umfang dieses Beitrages sprengen, alle aufgeführten Bereiche differenzierter zu erläutern. An dieser Stelle können nur punktuell an den Stellen Ergänzungen gebracht werden, an denen es die Fülle von Belegen und das Auftreten unterschiedlicher Aspekte innerhalb der einzelnen Bereiche rechtfertigt.
Die Überempfindlichkeit kann dazu führen, dass die davon Betroffenen Dinge in der Luft oder z.B. in den Augen von Menschen wahrnehmen, die anderen verborgen bleiben. Es entsteht oft auch eine erhöhte Blendungsempfindlichkeit, die zu Schwierigkeiten beim Aufenthalt im Freien, besonders bei Schnee, aber auch beim Lesen und Schreiben auf weißem Papier führt. Das Abschalten von der Wahrnehmung wird entweder als Schutz vor Reizüberflutung willkürlich herbeigeführt oder geschieht unwillkürlich.
Bei der Verzerrung werden Gegenstände in Form und Größe verändert wahrgenommen. Zum Teil vollzieht sich diese Veränderung, während das Objekt betrachtet wird. Dabei werden von einigen Betroffenen innere oder äußere Auslöser für die Verzerrung beschrieben, z.B. ein plötzliches Geräusch oder die Folgen eines Anfalls. Ob es sich bei der Inkonstanz der räumlichen Verhältnisse oder der Unfähigkeit, diese zu erkennen, um eine Form der Verzerrung der Wahrnehmung handelt, kann noch nicht endgültig entschieden werden. Die Inkonstanz der räumlichen Verhältnisse oder die Unfähigkeit, diese zu erkennen, führt zu Schwierigkeiten beim Einschätzen von Geschwindigkeiten. Die Betroffenen kollidieren mit anderen Menschen und haben Probleme im Straßenverkehr.
Einige Menschen mit autistischer Behinderung fixieren nicht zentral, sondern peripher, d.h. sie sehen mit dem äußeren Rand ihres Blickfeldes scharf. Zentral hingegen fühlen sie sich z.T. geblendet oder von visuellen Reizen überflutet. Andere schildern, dass sie nur sehr flüchtig fixieren können, weil sich bei längerem Hinsehen die aufgenommenen Bilder verändern und verzerren.
Neben den Schwierigkeiten in den einzelnen Modalitäten entstehen noch Schwierigkeiten beim Zusammenwirken der Sinne. Sie werden als intermodale Störung bezeichnet. Diese Störung kann dazu führen, dass in einer Situation mehrere Analysatoren einander widersprechende Informationen liefern. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine Situation jeweils nur von einem Sinn abgebildet werden kann, die Hand auf dem Knie also bspw. entweder nur gesehen und nicht gefühlt oder nur gefühlt und nicht gesehen werden kann. Dies wird häufig von den Betroffenen als mono sein gekennzeichnet. Es entstehen Kindern und Jugendlichen mit autistischer Behinderung daher mehr Probleme, als den Menschen, bei denen nur eine Modalität, also beispielsweise das Sehen oder das Hören, verändert ist.
Welche der beschriebenen Probleme können nun durch die Nutzung des Internets kompensiert werden?
Geräuschüberempfindlichkeit und Filterschwäche
Wenn Sprache als so laut erlebt wird wie Donner und es nicht möglich ist, die Stimme des Interaktionspartners von den Hintergrundgeräuschen abzuheben, ist es schwierig, sich an einem Gespräch zu beteiligen. Die Geräuschüberempfindlichkeit erschwert es aber einigen Menschen auch, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Ein Spezifikum des Internets gegenüber anderen Möglichkeiten schriftsprachlicher Kommunikation ist es nun, dass Informationen und Kontakte ohne Wege erlangt bzw. hergestellt werden können. Es ist nicht notwendig, Briefmarken zu kaufen und die Post einzuwerfen. Zudem werden alle Informationen dem Gesprächspartner in großer Geschwindigkeit zugänglich. Im Internet kann man sich auf unkompliziertem Wege auch einer größeren Öffentlichkeit stellen, ohne die Vorteile einer Eins-zu-eins-Kommunikation aufzugeben.
Die verlängerte Informationsverarbeitungszeit
Das Internet ist ein Medium, mit dem man in schriftlicher Form kommuniziert. Dies bietet den Vorteil, dass Aufnahme und Verarbeitung der Informationen zu einem selbst gewählten Zeitpunkt und in einem selbst gewählten Tempo erfolgen können. Jeder Nutzer bestimmt selbst seine Lesegeschwindigkeit, denn das Geschriebene liegt dauerhaft vor. Er kann jedes Wort, jeden Satz mehrmals lesen, mit den Augen zurückgehen, sich an schwierigen Stellen Zeit lassen. In der Dialogsituation im Internet bestimmt jeder Teilnehmer die Länge seines Beitrages, ohne nonverbale Hinweise erkennen zu müssen, dass der Partner das Wort ergreifen bzw. seine Aussage beenden möchte. Auch die Formulierung einer Antwort unterliegt im E-Mail-Dienst keinem Zeitdruck. Donna Williams hat während eines Interviews, das u.a. auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, erklärt, dass sie sieben Sekunden benötigt, um eine akustische Information zu verarbeiten und reagieren zu können. Damit ist die Teilnahme an einem Gespräch kaum möglich. Für einen nicht informierten bzw. ungeduldigen Partner überschreitet dies die Zeitspanne, in der er eine Reaktion erwartet. Es kommt zum Abbruch der Kommunikation. Die verlängerte Informationsverarbeitungszeit im Bereich der akustischen Wahrnehmung ist ein Bestandteil der Interpretationsprobleme, die viele Menschen mit autistischer Behinderung haben. Susanne Nieß beschreibt ihre verlängerte Informationsverarbeitungszeit folgendermaßen:
„Auch wenn ich für eine Autistin außergewöhnlich gut sprechen kann, habe ich Schwierigkeiten, jemandem schnell zu antworten. Zuerst muß ich merken, daß ich angesprochen worden bin. Dann muß ich ‚untersuchen‘, was das Gesagte bedeutet. Wenn ich das verstanden habe, muß ich mir die Antwort überlegen und in Worte fassen. Dann muß ich meinen Mund in Bewegung setzen und sie sagen. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Brieffreundin im Land Krksts, und schreiben ihr Briefe in der Landessprache Krkstst. Nach einigen Jahren lädt ihre Freundin sie ein und sie fliegen zu ihr nach Krksts. Am Tag nach der Ankunft sitzen sie gerade im Schaukelstuhl, als Ihnen klar wird, daß das Geräusch, das Sie hören, nicht von einer kaputten Maschine kommt, sondern von ihrer Brieffreundin, die fragt: ‚Xlplt rkrtzp krprzbl stltmk?‘ Was heißt das bloß? Schließlich fällt es Ihnen ein: ‚Hast du meine Brille gesehen?‘ Tja, irgendwo haben Sie sie gesehen. Ach ja, sie liegt neben dem Telefon. Aber wie heißt das auf Krkstst? Sie übersetzen also: ‚Sie liegt neben dem Telefon` das müßte heißen: ‚Twrklrk spn pnlxtz xraknlkp‘. So etwas in einem Brief zu schreiben ist ja gut und schön. aber es aussprechen? Ihnen gelingt es, und so antworten Sie schließlich Ihrer Freundin, die inzwischen längst ungeduldig geworden ist und die Frage noch einmal lauter wiederholt hat. (Ihre Klassenkameradin, die ebenfalls zu einer Freundin nach Krkst geflogen war, ist das nicht gelungen: Sie konnte sich bis zu ihrer verfrühten Heimreise nur schriftlich verständigen (wie viele Autisten).“8
Der e-mail-Dienst des Internets ermöglicht es, die verlängerte Informationsverarbeitungszeit im Bereich der akustischen Wahrnehmung, die bei Menschen mit autistischer Wahrnehmung auftreten kann, zu kompensieren. Anders sieht es beim chatten aus. Hier erfolgt die Kommunikation synchron, d.h. es wird eine Antwort in einem bestimmten Zeitrahmen erwartet. Möglicherweise ist dies der Grund, weshalb dieser Dienst weniger häufig von Menschen mit autistischer Behinderung genutzt wird.
Abschaltung von der Wahrnehmung und Verzerrung der Wahrnehmung
Menschen mit autistischer Behinderung sind manchmal nicht in der Lage, akustische Informationen aufzunehmen. Sie sind wie von der Information abgeschaltet. Dies erschwert die Teilnahme an einem Gespräch erheblich.
Durch die Verzerrung ihrer Wahrnehmung sind einige Menschen mit autistischer Behinderung nicht in der Lage, Sprache zu verstehen. Eine mündliche Kommunikation ist deshalb kaum möglich.
Mit Hilfe der schriftsprachlichen Kommunikation im Internet können diese Schwierigkeiten ausgeglichen werden.
Überempfindlichkeit im optischen Bereich
Durch Änderungen der Kontraste auf dem Computer-Bildschirm ist es möglich, dass der Betroffene die aus der Überempfindlichkeit resultierende Blendung, die beim Lesen eines Briefes oder Faxes auf weißem Papier entstehen kann, kompensiert. Zwar besteht auch die Möglichkeit, dass der Absender farbiges Papier für seine Korrespondenz nutzt, durch die Kontraständerung kann aber der Empfänger selbst tätig werden und sie seinen Bedürfnissen anpassen.
Intermodale Schwierigkeiten
Die sprachlichen Äußerungen eines Sprechers sind in der Regel in nichtverbale Handlungen eingebettet, die gleichzeitig decodiert und bewertet werden müssen. Bei einer Kommunikation im Internet ist es nur notwendig, sich auf den visuellen Sinn zu konzentrieren, es müssen nicht gleichzeitig Informationen über andere Kanäle aufgenommen werden, wie dies bspw. bei der Aufnahme von Sprache notwendig ist. Die unterschiedliche Beteiligung des akustischen und visuellen Sinnes bei der Entschlüsselung einer verbalen Nachricht hat Wallbott dargestellt. Er bezieht sich auf eine Untersuchung Mehrabians, nach der sich die Wirkung einer Botschaft zu etwa sieben Prozent aus deren verbalem Inhalt, zu 38 Prozent aus der vokalen Information und zu 55 Prozent aus der Mimik ergibt.9
Diese Einschränkung in den übermittelten Informationen wird vielfach als Nachteil in der Kommunikation begriffen. Für Menschen mit autistischer Behinderung scheint dieser vermeintliche Nachteil eher vorteilhaft zu sein.
Es ist also mit Hilfe des Internets möglich, intermodale Schwierigkeiten, die kommunikationsbeeinträchtigend wirken, zu kompensieren. Die beschriebenen Probleme der verlängerten Informationsverarbeitungszeit und der intermodalen Zusammenarbeit können durch schriftliche Kommunikation generell ausgeglichen werden. Tatsächlich benutzten viele Menschen mit autistischer Behinderung den postalischen Weg zur Kommunikation, bevor das Internet ein Kommunikationsmedium für die breite Öffentlichkeit wurde. Einige nutzen ihn auch parallel noch weiter. Andere benutzen ein Fax-Gerät. Die Mutter eines jungen Mannes mit autistischer Behinderung, Eleonore Frey, Schriftstellerin und Professorin für Germanistik in Zürich, schildert ihre Beobachtungen folgendermaßen:
„Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Sie suchen – mehr oder weniger, wie die anderen auch – den Kontakt. Sie hören zu, und sie sind glücklich, wenn man ihnen gut zuhört; wenn man sie versteht. Es gibt unter ihnen Korrespondenznetze, die sich von England nach Australien, nach Japan, in die Schweiz und in die USA spannen. ‚Wie geht es Dir?‘ fragt eine junge Frau ihren Briefpartner. ‚Macht es Dir etwas aus, dass ich kaum sprechen kann und dass ich mich so schlecht bewege? Darf ich fragen: Ist es bei Dir auch so schlimm?‘ Den Autisten fällt wohl eine briefliche Begegnung leichter nicht nur, weil es ihnen oft leichter fällt, zu schreiben als zu sprechen. Als Briefpartner rücken einem die anderen nicht auf den Leib, sondern es bleibt der Abstand gewahrt, der – nicht nur Autisten – eine Annäherung erst möglich macht; der Respekt, in dem man die anderen nicht in Besitz nimmt und damit in einem gewissen Sinne vernichtet, sondern in dem man sie gelten lässt als das, was sie – prekär vielleicht – sind.“10
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Das Medium Internet scheint zumindest für einen Teil der Menschen mit autistischer Behinderung ein geeignetes Kommunikationsmedium zu sein.
Für die Menschen ohne verbale Sprache ist von Vorteil, dass die Kommunikation im Internet für alle Teilnehmer schriftlich erfolgt. Ungefähr die Hälfte aller Menschen mit autistischer Behinderung kann nicht verbal kommunizieren. Ein Teil von ihnen nutzt die Methode der Gestützten Kommunikation. Bei der Gestützten Kommunikation handelt es sich um eine Methode, die es manchen Menschen mit fehlender oder beeinträchtigter Sprache ermöglicht, sich durch Zeigen auf Bilder, Symbole oder Buchstaben mitzuteilen. Ein Helfer gibt dabei durch das Halten der Hand oder des Armes eine physische und psychische Stütze. Das bedeutet, von der oftmals notwendigen Stütze abgesehen, dass sie in gleicher Art und Weise wie alle anderen Teilnehmer kommunizieren können.
Für diejenigen, die über verbale Sprache verfügen, ergibt sich die besondere Eignung aus der Möglichkeit, Wahrnehmungsbesonderheiten, die den Prozess der verbalen Kommunikation erschweren oder unmöglich machen, durch seinen Einsatz zu kompensieren. Zu diesen Wahrnehmungsbesonderheiten gehören die verlängerte Informationsverarbeitungszeit, die Hyperakusis, das Abschalten von der Wahrnehmung, die Verzerrung, die Filterschwäche im Bereich der akustischen Wahrnehmung, die Überempfindlichkeit im optischen Bereich und Schwierigkeiten bei der intermodalen Zusammenarbeit.
Menschen mit autistischer Behinderung haben im Internet die Chance, soziale Kontakte aufzunehmen und Informationen zu erhalten, die ihnen sonst verschlossen blieben. Damit besitzt zumindest für diese Gruppe von Menschen die These der Vereinsamung durch Computernetze keine Gültigkeit. Vielleicht muss die gängige Vorstellung, dass diese Menschen nicht an sozialen Kontakten interessiert seien, ebenfalls revidiert werden.
Man kann davon ausgehen, dass Menschen mit autistischer Behinderung nicht die einzige Gruppe bilden, für die Kommunikation im Internet Möglichkeiten bietet, Schwierigkeiten in der verbalen Kommunikation auszugleichen. Dies ist auch bei Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderungen und auch bei Personen mit eingeschränkter Mobilität vorstellbar. Wenn dieses Medium nun eine besondere Eignung aufweist, sollte es diesen Menschen auch in allen Lebensbereichen, und damit auch im Bereich des Unterrichts, zur Verfügung stehen. Sonderpädagogen haben die Aufgabe, für Menschen mit besonderen Bedürfnissen die Bedingungen, unter denen Lernen stattfinden kann, zu schaffen.
In diesem Zusammenhang sei auf ein erfolgreiches Projekt an der Erlangener Universitätskinderklinik verwiesen. Um krebskranken Kindern die Kommunikation mit Altersgenossen zu ermöglichen, wurde dort ein Projekt Unterricht per Videokonferenz ins Leben gerufen. Jeden Dienstag haben die schwerkranken Kinder mit den Schülern der Loschgeschule auf der anderen Seite der Straße gemeinsamen Unterricht.
Unterricht unter Einbeziehung des Internets als Medium zur Kommunikation wäre eine sinnvolle Möglichkeit für Schüler mit unterschiedlichen Schwierigkeiten. Unter Berücksichtigung des Projektes „Schulen ans Netz“ erhalten diese Überlegungen eine besondere Aktualität.
1Verspohl, Wolfgang, E-Mail vom 03.09.2000, http://www.autismus.org
2 In: Bunter Vogel 4 (1999) 11 – S. 41
3
http://www.planetc.com/users/blackjar/autism.html
http://www.planetc.com/users/blackjar/anisub.html
http://130.111.120.13/~cci/fcmaine/sp95will.html
http://www.planetc.com/users/blackjar/autblackde.html
http://www2.crosswinds.net.chicago/~quijkhler/xyquez/64/a.html
http://www.geocities.com/Colosseum/Pressbox/7944/asperger/as4.htm
http://isnt.autistics.org/,http://www.students.uiuc.edu/~bordner/ani.html
http://www.students.uiuc.edu/~bordner/ani/gunilla.html
http://www.students.uiuc.edu/~bordner/ani/helen.html
http://www.students.uiuc.edu/~bordner/ani/jane.html
http://www.students.uiuc.edu/~bordner/ani/dont_mourn.html
http://www.angelfire.com/ut/autistic/
http://www.nox.com/aut/howto.htm
http://wwwbrdrand.com/
4 Nieß Susanne: Autismusbericht Teil 5, Seite 1f., unveröffentlicht
5 Nieß, Susanne - In: Nagy, Christiane: Einführung in die Methode der gestützten Kommunikation (Faclitated Communication - FC) – Neufassung 1998 – 2. Aufl. - „Hilfe für das autistische Kind“ Regionalverband München, 1999 – S. 10
6 Nachricht von Kaetzchen1964@t-online.de in der Mailinglist: autismus@onelist.com vom 24. Juni 1999, 08.57
7 Verspohl, Wolfgang, E-Mail vom 03.09.2000, http://www.autismus.org
8 Nieß, Susanne: Sprachschwierigkeiten. In: Fachtagung Beschulung autistischer Kinder. Hilfe für das autistische Kind (Hrsg.), 1995 – S. 28
9 Siehe Wallbott, Harald G.: Mimik im Kontext. Die Bedeutung verschiedener Informationskomponenten für das Erkennen von Emotionen – Göttingen, Toronto, Zürich: Verlag für Psychologie Dr. C. J. Hogrefe, 1990 – S. 84
10 Frey, Eleonore: Vom Durchdrehen der Räder im Schlamm – In: Weltwoche Supplement (1995) 5 – S. 17f.
Unterricht per Videokonferenz – In: pädiatrie hautnah 13 (2000) 3 – S. 120