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Bewegung als integrativer Bestandteil des Unterrichts -Klassenstufen 1 bis 3

erschienen in Sonderpädagogik in Berlin - Heft 3/1999, S. 3-8.

Dr. Brita Schirmer

(Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und zur besseren Lesbarkeit wird im nachfolgenden Text die männliche Form verwendet, auch wenn Personen beider Geschlechter gemeint sind)

Es ist nicht ausreichend, der Bewegungslosigkeit der Kinder in der Schule ausschließlich durch Unterbrechung des Lernens für Turnpausen oder gymnastische Übungen zu begegnen. Empirische Untersuchungen belegen, daß es sinnvoller ist, Bewegung für den Aneignungsprozeß zu nutzen. Konzepte für die Gestaltung eines Unterrichtes in der Bewegung, einer Verknüpfung von Bewegungsmöglichkeiten und Lerninhalten sind deshalb zumindest für das jüngere Schulalter notwendig.

,,Wie brav müssen (...) Schüler/innen sein, wenn sie wöchentlich 1.530 Minuten mehr oder weniger stillsitzen müssen, und was an körperlicher Vergewaltigung vollzieht sich in der Schule, die Menschen weniger Auslauf gibt als Tieren?”

fragte Winkel 1990 und kritisierte den bewegungsarmen Schulalltag vieler Heranwachsenden (1990, S. 558). Die ständige Unterdrückung des Bewegungsbedürfnisses bekommt in seiner Frage den Stellenwert einer Mißhandlung. An der von ihm geschilderten Realität hat sich auch in den vergangenen Jahren wenig geändert. Im Gegenteil, ständig größer werdende Lerngruppen schränken die Möglichkeiten der Bewegung im Klassenraum weiter ein. Die Unterrichtsräume sind nicht so konzipiert, daß sie die freie Bewegung im Unterrichtsalltag zulassen. Die Lebensumstände der Kinder sind häufig nicht geeignet, außerhalb der Schule einen Ausgleich zum erzwungenen Stillsitzen zu schaffen. Das Leben in der Großstadt erschwert den Heranwachsenden unbeschwertes Spiel im Freien. Die Wohnungen bieten häufig nicht die notwendigen räumlichen Möglichkeiten, die Motorik im erforderlichen Maße zu trainieren, und sind nicht ausreichend geräuschisoliert. Auch außerhalb der geschlossenen Räume mangelt es an geeigneten Plätzen. Die vorhandenen Spielplätze können von Kindern oftmals nicht allein erreicht werden und die Eltern fürchten, ihre Kinder dort ohne ihre Aufsicht spielen zu lassen. Zudem leben die Erwachsenen oft ein passives Entspannungsverhalten vor. Viele Kinder leiden unter einer einseitigen Reizüberflutung durch ständiges Video- oder Fernsehgucken, stundenlanges Computer- und Gameboyspielen. Andererseits fehlt ihnen Gelegenheit, ihre Grobmotorik und ihre Körperkoordination zu schulen. Dies führt dazu, daß Kinder viele für sie notwendige Erfahrungen nicht machen können.

Dabei ist Bewegung von größter Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung. Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt ist an motorische Vorgänge gebunden. Umgangssprachlich spricht man auch vom Begreifen eines Sachverhaltes. Vielfach wird die Bewegung als Grundlage und Voraussetzung aller körperlichen und geistigen Leistungen des Menschen gesehen. Für die körperliche Entwicklung des Kindes ist Bewegung notwendig, da die Organe und das Skelettsystem sich nicht nur nach einem genetisch angelegten Plan, sondern auch nach dem Maß ihrer Beanspruchung entwickeln. So betrachtet, erscheint der natürliche Bewegungsdrang der Kinder sehr sinnvoll. Zumindest in den Großstädten entstehen die Probleme, die aus der andauernden Einschränkung des Bewegungsbedürfnisses resultieren, allerdings nicht erst in der Schule. Bereits zum Zeitpunkt der Einschulung besteht bei einigen Mädchen und Jungen ein Entwicklungsrückstand im Bereich der Motorik. Im Unterricht erleben wir sie als Kinder, die Schwierigkeiten beim Überkreuzen der Körpermitte und beim Halten des Gleichgewichtes zeigen oder allgemein ungeschickt wirken. Damit fehlen ihnen aber auch Voraussetzungen für schulisches Lernen. Aggressionen und psychische Fehlentwicklungen können entstehen, denn zum einen kann Bewegung emotional befreiend wirken, zum anderen machen die Leistungsanforderungen der Schule diesen Kindern ihre Probleme oftmals erstmalig bewußt. Für die Schule entsteht hier ein besonderer Auftrag. Werden die bereits bestehenden Entwicklungsdefizite nicht durch gezielte Förderung aufgeholt, können die Kinder darauf aufbauende Leistungen nicht erbringen. Sie werden auf Dauer den Anforderungen der Grundschule nicht entsprechen können und es entsteht Sonderpädagogischer Förderbedarf. Unter entwicklungsfördernden Bedingungen hingegen ist davon auszugehen, daß auch diese Kinder erfolgreich den Rahmenplananforderungen der Grundschule genügen können.

In den Berliner Sonderpädagogischen Förderklassen (vgl. Gieseke 1997) wurde deshalb u.a. für Kinder mit derartigen Schwierigkeiten die Möglichkeit geschaffen, besondere Förderung zu erhalten. Hier lernen zehn bis 15 Schüler nach dem Rahmenplan der Grundschule. Allerdings wird der Unterrichtsstoff von zwei Schuljahren in drei Jahren vermittelt, ohne daß das zusätzliche Jahr auf die Pflichtschulzeit angerechnet wird. Die Unterrichtsstunden der Stundentafel werden um zehn Stunden erweitert, die als Förderstunden oder im Zweipädagogensystem organisiert werden können. Die Förderung im Bereich der Psychomotorik hat dabei einen großen Stellenwert. In ihren Genuß kommt aber nur eine verhältnismässig geringe Anzahl von Schülern. Dessen ungeachtet finden wir in der regulären Grundschule Bedingungen wie die eingangs in Winkels Frage beschriebenen. Dem Bewegungsdrang der Kinder wird im allgemeinen nur in den wenigen Sportstunden Rechnung getragen. Während der anderen Unterrichtsstunden werden unruhige Kinder häufig durch Ermahnungen und Zureden diszipliniert, obwohl sie durch ihr Verhalten ein Bedürfnis nach Bewegung signalisieren. Längere statische Haltungen, wie sie beispielsweise beim erzwungenen Stillsitzen in der Schule gefordert werden, führen bei Kindern zu Störungen des Blutrückstromes, einer Verflachung des Stoffwechsels und damit zu einer schlechten Sauerstoffversorgung des Gehirns. Insbesondere bei jüngeren Kindern kommt es zu einer erheblichen Anspannung. Vielleicht erinnert sich auch der Leser, wieviel Anstrengung es ihn als Kind mitunter gekostet hat, still am Platz sitzen zu bleiben, wie es ihn alle Kraft und Aufmerksamkeit kostete, wie der Stuhl drückte, er vorsichtig hin und her rutschte, um den Lehrer nicht zu verärgern, und das Klingelzeichen herbeisehnte. Keine guten Voraussetzungen für das Lernen.

Diese Ausführungen belegen, wie sinnvoll es sein müßte, dem ständigen Stillsitzen in der Schule entgegenzuwirken. Derartige Bemühungen hatte es übrigens bereits 1907 in Preußen gegeben, wo durch Bewegungsübungen den ,,nachteilige(n) Folgen des anhaltenden Sitzens der Schüler und Schülerinnen” vorgebeugt werden sollte (Lobsien 1911, S. 119). Ähnliche Untersuchungen gab es unter der Bezeichnung ,,Strausberger Experiment” in der DDR, aber auch in anderen Ländern. Positive Einflüsse auf die Lernergebnisse konnten nachgewiesen werden (vgl. Rohnstock 1985).

Doch diese Ansätze berücksichtigen nur das Bewegungsbedürfnis an sich. Überlegungen, kinästhetische Eindrücke für das Lernen zu nutzen, spielen dabei keine Rolle. Es scheint deshalb sinnvoller, das Lernen der Kinder nicht ausschließlich durch Bewegungspausen oder Sportunterricht zu unterbrechen, in denen ohne Bezug zum Lerngegenstand gymnastische bzw. psychomotorische Übungen durchgeführt werden. Vielmehr sollte die Bewegung mit den Lerninhalten verknüpft werden.

Es konnte in einer einjährigen empirischen Untersuchung die Effektivität eines Unterrichts nachgewiesen werden, in dem Lernen und Bewegung vernüpft wurde. Den Kindern werden im Unterricht Bewegungsspiele angeboten, die neben der Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses und der Schulung der Motorik auch den individuellen Aneignungsprozeß unterstützen können (vgl. Schirmer, 1993 und 1994). Es bietet sich den Kindern die Möglichkeit, Bewegung für das Lernen nutzbar zu machen, indem durch die kinästhetische Wahrnehmung Schwächen anderer Analysatoren ausgeglichen werden können. Einigen Mädchen und Jungen, die Schwächen in der optischen und akustischen Wahrnehmung haben, kann auf diese Weise geholfen werden. Sie können bestimmte Lerninhalte leichter auffassen, wenn sie dazu die Bewegung ihres ganzen Körpers nutzen können. In der Vorschulzeit tut dies nahezu jedes Kind. Im allgemeinen sitzen die Kinder dabei aber nicht stundenlang still auf einem Stuhl. Dies ändern sich grundlegend mit ihrem Eintritt in den Schulalltag. Es konnte zudem überzeugend nachgewiesen werden, daß Unterricht, der sich auf diese Weise an den Bedürfnissen der Kinder orientiert, ihnen mehr Freude bereitet.

Bewegung im Unterricht fördert zudem die Entwicklung des Sozialverhaltens der Kinder. Zumeist bewegen sie sich in und mit der Gruppe und oft mit einem Partner. Ein ständiges Reagieren auf andere Kinder ist notwendig. Sitzt das Kind hingegen an seinem Platz, bleibt es einen großen Teil des Unterrichts ohne direkten Kontakt zu seinen Mitschülern und ohne Möglichkeit, soziales Miteinander zu trainieren. Eine Schwierigkeit für Lernen in Bewegung stellt zweifellos die geringe Größe der Klassenräume dar. Vielleicht können die nachfolgenden Anregungen deshalb im Förderunterricht oder im Teilungsunterricht aufgegriffen werden.

Es werden im folgenden einige praktisch erprobte Bewegungsspiele aus dem mathematischen Anfangsunterricht dargestellt. Sie können sicherlich nicht unkritisch auf eine andere Lerngruppen übertragen werden, sondern sind als Impulse gedacht, um eigene Ideen im Sinne eines Lernens in Bewegung zu entwickeln.

Spiele mit Reifen

Zwei Reifen liegen im Klassenzimmer auf dem Boden. Einer ist gelb, der andere blau. Die Kinder bewegen sich zu einer ihnen bekannten Musik im Raum. Wenn sie verklungen ist, stellen sie sich in einen der beiden Reifen oder setzen sich auf ihren Platz. Es existiert eine Vereinbarung, nach der in jedem Reifen mindestens ein Kind stehen muß.

Verschiedene Aufgaben können nun gestellt werden, z.B.:
a) Mengenvergleich: ,,Im blauen Reifen sind mehr Kinder als im gelben.”
b) Zuordnung Menge-Zahl: ,,Im blauen Reifen sind drei Kinder und im gelben Reifen sind vier Kinder.”
c) Bilden von Additionsaufgaben: ,,2+3=5”
Eventuell kann zusätzlich ein ,,Sprecherkind” bestimmt werden, das die Aufgabe nennt. Ein ,,Schreibekind” kann die Gleichung an die Tafel schreiben, und ein „Zeigekind” kann sie an einer anderen Tafel aus verschiedenen heraussuchen und zeigen. Damit können die Kinder differenzierte und ihren Fähigkeiten entsprechende Aufgaben erhalten.
d) Zerlegen von Zahlen: ,,7=3+4”
e) Bilden von Subtraktionsaufgaben ,,7-3=4”
Es können noch mehr Kinder aktiv werden, wenn sie z.B. Bausteine in die Reifen legen. Auch die Arbeit in Gruppen ist möglich, einige Schüler können die Aufgaben auf ihrem Platz nachlegen, aufschreiben oder aus Aufgabenkarten heraussuchen. In diesem Spiel wird von den Kindern eine rasche Entscheidung gefordert (Stelle ich mich in den gelben oder blauen Reifen oder setze ich mich auf den Platz?), ein Mißerfolg aber ist unmöglich. Dadurch können Entschlußfreudigkeit und Selbstbewußtsein der Kinder erhöht werden.

Ein Reifen liegt im Raum. Die Kinder bewegen sich zur Musik. Auf Zuruf stellen sich so viele Kinder in den Reifen, wie der Spielleiter durch Nennen einer Zahl bestimmt.

Es liegen mehrere Reifen im Raum. In jeden wird eine Karte mit einer Ziffer von 1 bis 9 gelegt. Die Jungen und Mädchen bewegen sich zur Musik im Raum. Ruft der Spielleiter eine beliebige Zahl, stellen sich die Kinder an den entsprechenden Reifen.

Spiele mit Seilen

Einige Kinder legen eine beliebige Ziffer mit dem Seil (da einige Ziffern zweizügig geschrieben werden, das heißt, beim Schreiben wird einmal abgesetzt, benötigt man mehrere Seile). Andere tasten die Formen mit Füßen oder Händen ab und sollen sie erkennen. Um das Erkennen zu erleichtern, sollen die Figuren entsprechend des Schreibflusses erfühlt werden. Insbesondere beim Ertasten mit den Füßen benötigen einige Kinder Halt und Hilfe von einem Partner.

Mehrere Kinder legen gemeinsam eine geometrische Figur, z.B. ein Dreieck oder ein Viereck, mit Seilen. Sie dürfen dazu aber nur ihre Füße benutzen.

Andere Spiele

Jedes Kind erhält ein Zeichenblatt mit einer Ordnungszahl. Dies ist eine ,,Wagennummer“,. Auf einem Blatt ist eine Lokomotive zu sehen. Die Schüler haben die Aufgabe, sich in der Reihenfolge aufzustellen, die ihre Wagennummer” vorgeben. Vorn steht das Kind mit der Abbildung einer Lokomotive. Der ,,Schaffner” fragt nun jeden Schüler: „Welcher Wagen bist du?” Die Antwort des Kindes ist abhängig von seiner Ordnungszahl. Sie kann bspw. lauten: ,,Ich bin der erste Wagen.” Der ,,Schaffner fragt weiter: ,,Wer fährt vor dir?” und anschließend ,,Wer kommt nach dir?“. Die Kinder antworten z.B.: ,,Vor mir fährt die Lokomotive.“ und ,,Nach mir kommt der zweite Wagen“. Zum Schluß bewegt sich der ,,Zug” zu dem Lied ,,Husch, husch, husch, die Eisenbahn” durch den Raum. Die ,,Lokomotive” bestimmt dabei den Weg und die Geschwindigkeit. Können nicht alle Kinder Ziffernkarten bekommen, weil erst wenige Ordnungszahlen bekannt sind, dürfen einige als „Schranken“ mit Klanghölzern in den Händen, mitspielen. Ein weiterer Schüler begleitet das Öffnen und Schließen mit einem Triangel. Dem Lehrer wird durch geschicktes Verteilen der Aufgaben eine Differenzierung in den Bereichen des Leistungs- und Sozialverhaltens ermöglicht. Außerdem können leistungsschwächere Schüler durch Ablesen von Vorgänger und Nachfolger auf der Karte des benachbarten Kindes zu Erfolgserlebnisse gelangen.

Jedes Kind bekommt einen Luftballonstrauß mit einem bis x Luftballons. Damit tanzen die Kinder zur Musik durch den Raum. Es sind nun verschiedene Aufgaben möglich:

 

Literatur

Gieseke, Brigitte/Gieseke, Thomas: ,,Rahmenrichtlinien” für Sonderpädagogische Förderklassen in der Berliner Schule (Entwurfsfassung). — In: Sonderpädagogik in Berlin. Verband Deutscher Sonderschulen e.V, Fachverband für Behindertenpädagogik, Landesverband Berlin (Hrsg.) 1997 2, S. 8-29

Lobsien, Max: Bedeutung der ,,Übungen für das tägliche Turnen ,,für das geistige Frische der Kinder“ — In: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 19 (1911) 3, S. 119­123

Rohnstock, Dagmar: Der Einfluß sportlicher Pausenbetätigung auf die nachfolgende Konzentrationsleistung sieben- bis fünftehnjähriger Schüler und Schülerinnen — 1985; Phil. Diss., TU-Berlin

Schirmer, Brita: Musik, Bewegung und Sprache im mathematischen Anfangsunterricht der Schule für Lernbehinderte. – 1993; Päd. Diss., HU-Berlin

Schirmer, Brita: Musik, Bewegung und Sprache im mathematischen Anfangsunterricht der Schule für Lernbehinderte. — In: Die Sonderschule 39 (1994) 6, S.5. 462-467 Winkel, Rainer: Heutige Schüler/innen. — In: Neue Sammlung 30 (1990) 4,S. 546-563