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Offenheit im Unterricht hat eine positive Konnotation. Die Vorstellung vom Offenen Unterricht verbindet man im Allgemeinen mit der Abwesenheit von Zwang und Regeln, mit Entscheidungsfreiheit und Entdeckerfreude. Offener Unterricht entspricht den pädagogischen Ideen der Gegenwart. Doch es stellt sich die Frage: Was ist eigentlich alles Offener Unterricht und wie heißt der Unterricht, der nicht offen ist? Ist das etwa Strukturierter Unterricht?
Strukturierter Unterricht, das klingt nach unbeweglichem, starrem, lehrerzentriertem Unterricht, den man eher negativ bewertet. Es klingt nach einem Unterricht, der einem alten, überholten Modell folgt und den man heute so den Schülern nicht mehr zumuten möchte. Strukturierter Unterricht scheint die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit in unverantwortlicher Weise einzuschränken, indem er ihre Entscheidungsfreiheit minimiert. Beinhaltet er nicht “rigide Reglementierungen, die eine optimale Entfaltung der seelischen und geistigen Kräfte der Schüler behindern” (vgl. BÖHM 2002)? Wird das pädagogische Vorgehen nicht mechanisch? Können durch Strukturierten Unterricht überhaupt effiziente Entwicklungsfortschritte erreicht werden können?
Die Schule ist ein Kind ihrer Zeit und auch die Diskussionen um pädagogische Fragen sind dies. Doch bei der alternativen Gegenüberstellung von Offenheit versus Strukturiertheit handelt es sich um eine Scheindiskussion, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Es ist eine Auseinandersetzung auf der Grundlage von problematischen Alltagsbegriffen, die im Verlauf der Pädagogikgeschichte mit spezifischen Konnotationen aufgeladen wurden.
Eine negative Bewertung erhielt der Begriff Strukturierter Unterricht mit Entstehen der reformpädagogischen Bewegung, in der es bereits eine Vielzahl von konstruktivistischen Ideen gab und hinterfragt wurde, inwieweit strukturelle Vorgaben des Erwachsenen tatsächlich entwicklungsfördernd für das Kind sein können. Ein weiteres Mal erfuhr der Begriff des Strukturierten Unterrichts eine negative Konnotation, da dieser Terminus auch in der Pädagogik der DDR gebräuchlich war:
“Die Hilfsschulpädagogen führen ihre Schüler in entwicklungsfördernde Tätigkeiten, indem sie die allgemeinen lernpsychologischen Gesetze und ihre schädigungsspezifischen Modifikationen ausnutzen. Das führt u.a. zu Strukturierungen der pädagogischen Prozesse in Phasen mit jeweils spezifischer Funktion für die Lerntätigkeit” (BAUDISCH et. al. 1982, 150).
Die DDR-Pädagogik wiederum bezog sich sehr stark auf die Pädagogik in der Sowjetunion und entlehnte dort auch ihre Terminologie. Aufsätze sowjetischer Pädagogen und Psychologen fanden in den Fachzeitschriften und -büchern der DDR große Verbreitung. Ein ganzes Beiheft der Sonderschule beschäftigte sich z.B. im Jahre 1988 mit pädagogisch-psychologischen Erkenntnissen aus dem Hilfsschulunterricht in der UdSSR. Hier heißt es auch in einem Beitrag:
“Die Untersuchungen beschäftigen sich mit [...] den Mitteln und Wegen zur Weiterentwicklung der Struktur der Unterrichtsstunde und der Organisationsform der Lerntätigkeit der Schüler“ (JEREMENKO 1988, 21).
Unterricht und Struktur gehörten in der Pädagogik in der UdSSR, und damit auch in der Pädagogik in der DDR, untrennbar zusammen. Das Begriffspaar taucht folgerichtig an zahlreichen weiteren Stellen des Aufsatzes auf: “um in der jeweils vorliegenden Struktur der Unterrichtsstunde Voraussetzungen für die Aktivierung der Schüler zur Tätigkeit festzustellen” (ebd.), “festzustellen, wie effektiv die einzelnen Strukturen der Unterrichtsstunden sind” (ebd.) oder“Weiterhin erfolgten Versuche mit dem Ziel, Mittel und Wege zur Weiterentwicklung der Struktur der Unterrichtsstunde und der Organisationsformen der Lerntätigkeit der Schüler aufzudecken”(ebd.).
Nach 1989 wurden die DDR-Pädagogik (und in nicht geringem Maße auch die Pädagogen) entwertet. In diesem Prozess wurden auch typische Begriffe der DDRPädagogik abgewertet. Sie werden häufig mit mangelnder Differenzierung des Unterrichts, Gleichmaß an erwartetem Lernfortschritt und diktatorischem Lehrerverhalten assoziiert.
Es ist sinnvoll, ganz unabhängig von den Bewertungen, die mit den Begriffen Strukturierter Unterricht und Offener Unterricht verbunden werden, ihre ursprüngliche Bedeutung zu untersuchen. Struktur bedeutet Gefüge, Bau, Aufbau, innere Gliederung und geht zurück auf das lateinische structura für ordentliche Zusammenfügung, Ordnung, Schichtung, Gefüge, Bauwerk, Bau. Die griechische Entsprechung des Wortes structura ist harmonia (Harmonie). Harmonie bedeutet ursprünglich nichts anderes als die richtige oder gute Zusammenfügung, z.B. des Gebälks eines Daches oder eines Bootes. Also sind structura und harmonia ganz identische Begriffe, nur haben sie offensichtlich unterschiedlich Konnotationen. Somit können wir auch structura ganz anlog zu harmonia als die wohlgeratene Zusammenfügung verschiedenster Elemente verstehen, was die ganze Problematik der Struktur des Unterrichts frei von den üblichen Bedeutungen in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Vor allem erscheint hier das Problem der Offenheit überhaupt gar nicht mehr als Gegensatz, denn Harmonie oder Struktur bedeuten ja selbst nichts anderes als die geordnete Zusammenfügung von Verschiedenartigem.
Strukturierung ist die Herstellung von Struktur, im pädagogischen Sinne demnach die Herstellung einer inneren Gliederung oder Ordnung im Prozess des Lehrens und Lernens. Im Strukturierten Unterricht wird die Aufgabe der Strukturierung vom Pädagogen wahrgenommen. Genau dies ist in den letzten Jahrzehnten ein Diskussionspunkt in der Pädagogik geworden. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob eine Strukturierung des Unterrichts und eine systematische Anleitung des Lehrers tatsächlich zu kalkulierbaren individuellen Lernerfolgen des Schülers führen oder ob Lernen nicht vielmehr ein komplexer Vorgang ist, der viel zu empfindlich auf kleinste Veränderungen reagiert, als dass sein Ergebnis voraussagbar wäre.
Aus kultur- und zivilisationskritischen Impulsen heraus wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die tradierte Form des Unterrichts in Frage gestellt. Eine neue, dem Kind eher gerecht werdende Schule wurde gesucht. Es entstanden unterschiedliche reformpädagogische Ansätze an vielen Orten Europas, meist unabhängig voneinander, die eine veränderte Rolle des Schülers im Unterricht als gemeinsames Merkmal haben. Bis heute gibt es kaum einen Aspekt der methodisch-didaktischen Diskussion, dessen Wurzeln nicht deutlich in der Epoche der Reformpädagogik liegen.
Der so genannte Offene Unterricht ist ein Sammelbegriff, der diese unterschiedlichen Konzepte vereinigt. Im Offenen Unterricht ist die Rolle des Pädagogen vorrangig die eines Beraters und Helfers, nicht desjenigen, der Inhalte, Verlauf und Durchführung des Unterrichts umfassend bestimmt. Offener Unterricht beinhaltet individuelle Zeiteinteilung des Schülers, er ist grob strukturiert und langphasig.
Doch auch der Offene Unterricht gelingt nur, wenn ihm Regeln, also eine Ordnung zugrunde liegen. Diese Regeln lassen dem Schüler aber viele Freiheiten, sein Vorgehen, seine Lernschritte, die Auswahl der Aufgaben, ihre Reihenfolge, die Dauer ihrer Bearbeitung usw. selbst zu bestimmen. Sie lassen also, um mit Rudolf ARNHEIM zu sprechen, die Entropie zu, wobei Entropie nicht nur als das Maß der Unordnung gilt, sondern auch als die Anzahl der Freiheitsgrade, die in einem System möglich sind (1979, 25). Freiheitsgrade sind dabei zu verstehen als die verschiedenen Zustände, die ein System im Zuge seiner Entwicklung erreichen kann. Es ist also durchaus so, dass auch ein “offenes” System immer nur eine begrenzte Anzahl von Freiheitsgraden aufweist. Genau diese Entropie macht den pädagogischen Wert des Offenen Unterrichts aus. Die Schüler können selbst tätig sein, ihre Selbstständigkeit wird unterstützt. Insbesondere werden verschiedene Wege der Problemlösung zugelassen, je nach den Voraussetzungen, die der einzelne Schüler mitbringt.
Die Malfolge mit der 2 wird eingeführt. Üblicherweise erfolgt die Herleitung auf der Grundlage der Addition, wobei die einzelnen Summanden jeweils 2 sind. Ein methodisches Vorgehen, das die Darstellung so stark reduziert, dass genau dieses eine Ziel, die Multiplikationsfolge aufzubauen, zugelassen wird, hat einen Freiheitsgrad.
Stellen wir uns nun aber vor, wir hätten in
der Klasse noch ein Kind mit besonderer
mathematischer Begabung. Ließe man für
dieses Kind innerhalb dieses Prozesses die
Erkenntnis zu, dass jedes zweite Produkt der
Malfolge mit der 2 zugleich die Malfolge
mit der 4 ergäbe, hätte das System bereits
zwei Freiheitsgrade.
Vielleicht gibt es noch einen Schüler, der zu einer weiteren Erkenntnis gelangt, vielleicht dass jedes dritte Produkt der Malfolge mit der 6 entspricht. Ist dies möglich, hat das System drei Freiheitsgrade.
Ein anderes Beispiel:
Die Malfolge mit der 9 wird eingeführt und ebenfalls wieder hergeleitet aus der Addition mehrerer Summanden, die 9 heißen. Dies entspricht einem System mit einem Freiheitsgrad.
Ein Schüler wählt aber einen anderen Weg. Er addiert nicht 9, sondern 10 und subtrahiert wieder 1. Wird dieser Weg ebenfalls zugelassen, hat das System zwei Freiheitsgrade.
Voraussetzung für Entropie im pädagogischen Prozess sind zum einen die genaue Kenntnis der Schüler und ihrer ernvoraussetzungen und zum anderen eine gute Fachkenntnis. Da die Schule ein besonderer Ort des Lernens ist, muss sie günstige Bedingungen für das Lernen schaffen. Lernprozesse werden dort unterstützt, wo der Lernende genug Reduktion findet, um sich das Neue aneignen zu können, und wo genug Freiheitsgrade vorhanden sind, damit er das Wissen und Können, das für ihn als individuelle Persönlichkeit bedeutsam ist, auf eine für ihn angemessene Weise erwerben kann. Dabei gibt es sowohl Menschen, die von einem Unterricht mit mehr Freiheitsgraden profitieren, als auch solche, bei denen im Sinne von Entwicklungsförderung eine Schwerpunktverschiebung zugunsten der Reduzierung notwendig ist.
Mit der Einführung des Begriffs der Entropie
stellt sich das Verhältnis von Ordnung und
Unordnung als Merkmal von Unterrichtsdynamik
vollkommen neu dar. Jedes strukturierte
Herangehen an die Verwirklichung
der Unterrichtsziele, sei es nun mit wenigen
oder mit vielen Freiheitsgraden, stellt
grundsätzlich auch ein System von Ordnung
dar. Wir haben es also bei den verschiedenen
Entropiegraden auch mit jeweils
verschiedenen Ordnungssystemen zu
tun. Es ist also so, dass ein System mit höheren
Freiheitsgraden aus der Sicht eines Systems
mit geringen Freiheitsgraden notwendigerweise
als Unordnung erscheint,
ebenso wie ein System mit wenigen Freiheitsgraden
aus der Perspektive eines höheren
Systems als falsche, störende, die
Dinge verzerrende Reduktion von Komplexität.
Wir kommen also mit dem Begriffspaar
Ordnung und Unordnung beim Verstehen
der hier entwickelten Unterrichtsproblematik überhaupt nicht mehr weiter
und sollten darauf verzichten.
Definiert man Unterricht als in einem Spannungsfeld zwischen niedriger und hoher Entropie befindlich, wird vorstellbar, dass es sich bei der Herstellung eines entwicklungsfördernden Gleichgewichts zwischen den beiden Polen Reduzierung und Erhöhung der Freiheitsgrade um eine diffizile Gratwanderung handelt.
Doch warum ist es sinnvoll, für einige Kinder die Freiheitsgrade im Sinne einer stärkeren Strukturierung zu reduzieren? Betrachten wir einmal zur Beantwortung dieser Frage den Prozess der Wahrnehmung.
Wahrnehmen ist kein passives Abbilden, sondern ein aktiver Prozess. In ihm werden relevante Reize ausgewählt und irrelevante unterdrückt, neue Informationen mit bereits bekannten verglichen und dem Neuen Sinn und Bedeutung zugewiesen. Von dem sensorischen Input, der ständig auf das Hirn einstürmt, ist nur ein Teil relevant. Im Allgemeinen verdienen nur wichtige Informationen die Aufmerksamkeit des Menschen. Es gibt Schätzungen, nach denen 90 oder sogar 99 Prozent der einlaufenden Informationen ausgefiltert werden (BUSSE 1999, 26). Die lichtempfindlichen Moleküle in der Netzhaut reagieren z.B. schon bei einem einzigen Lichtquant. Dies hat aber noch keine Meldung an das Nervensystem zur Folge, da der Mensch sonst fortwährend regellosen Lichteindrücken ohne Informationsgehalt ausgesetzt wäre.
Die Wahrnehmung unterliegt verschiedenen Gesetzmäßigkeiten. Von besonderer Bedeutung ist die Prägnanz. Sie hat mehrere Aspekte. Kurz dargebotene iguren mit leichten Mängeln etwa nimmt man ohne diese wahr. Sollen Personen einmal gesehene Figuren nachzeichnen, übertreiben sie wesentliche Charakteristika oder ebnen diese ein. So wird die Ordnung und Einfachheit vergrößert. Wieder ist es die Fähigkeit, bestimmte Informationen herauszuheben, die es dann dem Individuum erleichtert, ihnen Bedeutungen zu entnehmen.
Wie es ihm gelingt, diese Informationen von den anderen abzuheben, wird mit Hilfe unterschiedlicher Modelle zu erklären versucht. Jochen BUSSE (28) geht davon aus, dass der Mensch ein duales System benutzt:
„Hierbei sorgt der eine Teil des Systems dafür, dass bestimmte Wahrnehmungen, vor allem Gefahrensignale, verstärkt und auf diese Weise herausgehoben werden. Das andere Teilsystem bewirkt, dass störendes ‚Hintergrundrauschen‘ ausgefiltert wird. So kann im guten Zusammenspiel die Wahrnehmung geschärft und optimiert werden. Beide Systeme müssen aber auch aufeinander abgestimmt sein, d.h. sich in einem vernünftigen Gleichgewicht befinden.“
Mechthild SIEVERS (1982, 79f.) erklärt diesen Prozess mit Hilfe eines kybernetischen Modells. Danach unterliegt die Informationsverarbeitung generell Regelungsprozessen. Sie unterscheidet zwei Arten der Regelung: zum einen die Feedback-Regelung und zum anderen die antizipierende Regelung. Die Feedback-Regelung setzt ein, wenn die zu regelnde Größe um einen gewissen Betrag vom Sollwert abweicht, wie es z.B.der Fall ist, wenn ein Mensch Durst verspürt.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die Größe überhaupt nicht vom Sollwert abweichen darf. Hier bedarf es der antizipierenden Regelung. Dabei wird der Störung entgegengewirkt „noch bevor sie sich an der wesentlichen Variablen auswirken kann, d.h. der Informationsfluss geht nicht, wie bei der Feedback-Regelung, über die zu regelnde Größe bis zur Regelungseinrichtung des Systems, sondern die Regelungseinrichtung ist der wesentlichen Variablen vorgeschaltet, so dass diese keine Information von der Störung erhält. Weiterhin wurde ausgeführt, dass antizipierende Regelung sich in einer Kombination von zwei Regelungseinrichtungen vollzieht, wobei ein übergeordneter Regler R2 einen nachgeordneten Regler R1 ‚stellt’, d.h. ihn über die kommende Störung unterrichtet, so dass dieser geeignete Maßnahmen ergreifen kann, um der Störung zu begegnen.“
Das typische Merkmal des antizipatorischen Reglers ist also, dass er den Informationsfluss von den Störungen zu den entsprechenden Größen blockiert. Der übergeordnete Regler misst Häufigkeiten von Ereignissen. Mechthild SIEVERS geht nun davon aus, dass beim Menschen mit autistischer Behinderung dieser übergeordnete Regler ausfällt bzw. insuffizient ist. Deshalb ist der Regler nur unzureichend oder gar nicht in der Lage, die vom Sensorium aufgenommenen Reize zu ordnen und damit zu reduzieren. Schon Säuglingen gelingt es im Allgemeinen, Redundanzen zu erkennen und so das Überangebot von Reizen zu reduzieren. So bringen sie nach und nach Ordnung in das anfangs bestehende Reizchaos. Kann ein Kind diese Redundanzen aber nicht herstellen, kann es auch Gestalten nicht erkennen, Mechthild SIEVERS nennt dies „Superzeichen bilden“.
Das hat weit reichende Folgen: Da die Informationen nicht verarbeitet, also subjektiv reduziert werden, entsteht ein Informationsüberschuss, der zugleich zu einem Mangel an strukturierten Informationen führt, denen Bedeutung entnommen werden kann. So entsteht die paradoxe Situation, dass die Fülle der ungefiltert aufgenommenen Informationen zu einer sensorischen Deprivation führt.
Kindern, denen diese subjektive Reduzierung nicht oder nur schwer gelingt, können durch eine äußere Reduzierung von Reizen bei der Heraushebung wichtiger Informationen unterstützt werden. Tatsächlich gibt es Unterrichtsmodelle, die nach diesem Prinzip gestaltet sind.
Eine Schwerpunktverschiebung zugunsten der Reduzierung von Freiheitsgraden findet man in verschiedenen didaktischmethodischen Ansätzen und für verschiedene Schülergruppen. Ein Beispiel ist der so genannte Strukturierte Unterricht, der ursprünglich für Kinder mit Hyperaktivität oder minimalen Hirnschäden entwickelt worden war und erst danach auf andere Zielgruppen übertragen wurde. CRUICKSHANK, Direktor des Institute of Mental Retardation and Related Disabilities an der University of Michigan, hatte als Reaktion auf die Ablenkbarkeit dieser Schüler den Unterricht auf kleinstem Raum, in „Arbeitszellen“ durchführt. Hier erfolgt eine Reizreduktion durch eine streng durchstrukturierte Unterrichtsgestaltung in einem reizreduzierten Raum. „Der Klassenraum wird in einer einheitlichen, dezenten Farbe gestaltet, die Fenster bestehen aus Milchglas, Teppiche sind schalldämpfend und das Unterrichtsmaterial ist hinter Schranktüren verstaut. Das eigentliche Lernen findet individuell in kleinen Boxen oder Kabinen an den Seiten des Zimmers statt, wo zunächst auch gegessen und ausgeruht wird. [...] Das Auffassungsvermögen für die Lernaufgabe wird nicht durch andere Reize gestört. Eine ästhetisch ansprechende Gestaltung des Raumes durch Poster, Kalender oder eine Leseecke wäre demgegenüber kontraproduktiv“ (HILLENBRAND 1999, 104).
Die Strukturierung und Reizreduzierung bezogen sich jedoch nicht nur auf den Raum, sondern zugleich auch auf die zeitliche Abfolge der Ereignisse. Sie sollte logisch und vorhersagbar sein. Lernrelevante Reize wurden z.B. durch den Einsatz von Farben verstärkt. Positive Erfahrungen mit strukturiertem Unterricht konnten in jüngster Zeit bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen bestätigt werden (vgl. HENLE u.a. 2004).
In der Folgezeit gewann der Strukturierte Unterricht noch für eine andere Gruppe von Menschen eine besondere Bedeutung, die mit der Strukturierung der aufgenommenen Information große Schwierigkeiten haben: Menschen mit autistischer Behinderung. Ausgehend von einem 1964 begonnen Forschungsprojekt an der University of North Carolina in Chapel Hill wurde 1972 von Eric SCHOPLER und Robert REICHLER die Division TEACCH gegründet. TEACCH (Treatment and Education of Autistic and Communication handicaped Children) ist die Bezeichnung für das staatliche Autismusprogramm in North Carolina. Dahinter verbirgt sich ein Netzwerk aus Einrichtungen, die in enger Zusammenarbeit mit den Familien von Betroffenen und anderenDienstleistungsträgern eine lebenslange Förderung und Begleitung von Menschen mit Autismus bereitstellen. Es beinhaltet u.a. Diagnosestellung und begleitende Förderdiagnostik, Entwicklungsplanung und Anleitung von Eltern, Beratung und Begleitung von Lehrern bei der Gestaltung des Unterrichts und der Curriculumsentwicklung, Beratung anderer Institutionen (z. B. Wohnheime, Werkstatt); individuelle Therapie und Gruppenangebote (z. B. Sozialtraining); Berufsvorbereitung und Hilfen bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt; sowie die Entwicklung von Modellprojekten (Schule, Arbeit, Wohnen).
Wer sich mit TEACCH auseinandersetzt, wird zwangsläufig mit dem Prinzip der Strukturierung konfrontiert. Es bildet einen Kernpunkt der Methodik des gesamten Programms und damit auch des Unterrichts. Es umfasst drei verschiedene Bereiche: räumliche und zeitliche Strukturierung sowie die Strukturierung der geplanten Handlungen.
Die räumliche Strukturierung umfasst die Art und Weise, wie jeder Bereich des Raumes aufgebaut und organisiert ist. Dabei entstehen deutliche physische und visuelle Raumbegrenzungen, die zu erkennen geben, wo ein Bereich beginnt und endet und welche Funktion er hat. Außerdem wird der Raum so gestaltet, dass ablenkende Reize minimiert werden, z.B. durch den Einsatz von Sichtblenden.
Abb. 1: Ein Beispiel für die Gestaltung eines Arbeitsplatzes
Die zeitliche Strukturierung umfasst die Gliederung des Tages. Ein Plan vermittelt visuell, welche Aktivitäten in welcher Reihenfolge stattfinden. Auch das Verstreichen der Zeit kann optisch dargestellt werden. Zeitabschnitte haben einen klaren Beginn und ein klares Ende.
Die Strukturierung der geplanten Handlungen gibt Informationen darüber, was zu tun ist, in welcher Reihenfolge es zu tun ist, wann die Handlung abgeschlossen ist und was danach passiert. Alle Strukturierungshilfen werden in erster Linie visuell angeboten und in Art und Umfang individuell zugeschnitten.
Die Strukturierung des Arbeitsmaterials gibt vor, was zu tun ist und wann man die Arbeit beendet hat.
Doch auch Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen haben Probleme damit, wichtige Informationen von weniger wichtigen zu unterscheiden. Schon 1975 verweist Gustav O. KANTER (1975, 276) darauf, dass bei Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Lernen “nicht nur Tempo und Umfang der Wahrnehmung herabgesetzt, sondern auch Differenziertheit und Strukturiertheit des Wahrgenommenen vermindert sind.”
Folgerichtig gibt Udo B. BRACK empirisch fundiert folgende Hinweise zur
“Verbesserung der Erziehung und Förderung bzw. Behandlung von Kindern mit Entwicklungsretardierungen und Teilleistungsstörungen [...]:
den betroffenen Kindern zur Initiierung von Lernprozessen zunächst weniger – und nicht, wie es häufig geschieht, mehr – Informationen anzubieten als normal entwickelten; und erst allmählich, angepasst an die Fortschritte des Kindes, die Reizkomplexität zu erhöhen. [...]
Die Reduzierung des Reizangebotes sollte diewesentlichen, die jeweiligen Reize spezifisch charakterisierenden Merkmale herausarbeiten. Nur schrittweise sollten dann die redundanten bzw. zusätzlichen Merkmale hinzukommen.
Zugleich sollten – wegen einer evtl. damit verbundenen, die Verarbeitung erschwerenden Erhöhung der Reizkomplexität – äußere Hinweisreize vermieden werden, so dass die Ausgestaltung der zu verarbeitenden Stimuli praktisch von innen heraus [...] erfolgt.
Die Förderung sollte an den Entwicklungsstand,
d.h. der Informationsgehalt
des Angebots an die Reizverarbeitungsfähigkeit
des Kindes in Bezug auf die
jeweilige Aufgabenstellung angepasst
werden, damit das Kind nicht ‘überselektiv’
wichtige Informationen aussondert. Das
gilt nicht nur für den Beginn der Förderung,
sondern für die gesamte Ausgestaltung
derselben. Das bedeutet, dass die Lernfortschritte
laufend evaluiert werden müssen, um von ihnen den Ablauf des Förderprogramms
abhängig zu machen.
[...]
Offenbar wird der Lernfortschritt gefördert, wenn das Angebot reduzierter Informationen und die Unterlassung äußerer Hinweisreize zunächst, um die wesentlichen Informationen zu übermitteln, verbunden wird mit einer generellen Vermeidung von Störreizen, Ablenkung oder zusätzlicher Stimulation” (2001, 265).
Da es Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen oftmals an der inneren Struktur fehlt, die zur Organisation ihrer Wahrnehmung und ihrer Handlungen führen, sind sie in besonderem Maße auf äußere Strukturierung angewiesen.
Um also zur eingangs aufgeworfenen Frage zurückzukehren: Offener Unterricht steht Strukturiertem keinesfalls als konkurrierende Methode gegenüber. Es handelt sich bei Offenem und Strukturiertem Unterricht grundsätzlich um zwei verschiedene methodische Ansätze, die jeweils an unterschiedlichen Punkten des Kontinuums von niedriger und hoher Entropie angesiedelt sind.
Der Offene Unterricht ist ohne Struktur nicht realisierbar. Auch hier muss der Lehrer den Lernstoff vorstrukturieren, und dies individuell für jeden Schüler. “Offenheit in methodischer Hinsicht bedeutet, dass kein Lehrverfahren, keine Sozialform und keine Darstellungsform ausgeschlossen sind. Maßgebliches Kriterium für die Anwendung einer Unterrichtsstrategie ist wiederum der Schüler in seinem motivationalen, sozialen und kognitiven Verhältnis zur Sache und zu seiner sozialen Umgebung” (http://www . semgym.rv.bw.schule.de/forum/-disc/00000016.htm (13.11.02).
Wenn man also unterstellt, dass es Menschen gibt, die von stärker akzentuierter Strukturierung profitieren, wäre dies nach diesem Verständnis Offenen Unterrichts durchaus legitim. Es gibt ja durchaus auch Pädagogen, die derzeit von der Wirksamkeit Strukturierten Unterrichtens überzeugt sind (vgl. BÖHM 2002). Die Forderung nach Selbstständigkeit der Schüler darf diese nicht überfordern (vgl. BÖHM 2002). Oder, um es mit den Worten von Edmund KÖSEL und Helios SCHERER (1996, 107) zu sagen: “Ein erforderliches Mindestmaß an Fremdsteuerung soll sicherstellen, dass der Lernende, der noch nicht selbstgesteuert lernen kann, mit der Selbststeuerung als methodischem Zugang zurechtkommt. Selbstund Fremdsteuerung sind so betrachtet keine unversöhnlichen Gegensätze.”
Wie groß das erforderlich Mindestmaß an Fremdsteuerung bzw. Strukturierung ist, ist individuell sehr verschieden. Gerda SIEPMANN (2002, 35) spricht in diesem Zusammenhang von einem “sinnvollen Wechsel zwischen angeleitet strukturiertem Lernen und offenen Lernsituationen”. Viele Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen werden eher ein größeres Maß an Reduzierung benötigen als andere Altersgenossen. Gustav O. KANTER (1975, 277) verweist schon 1975 darauf, dass es von großer Bedeutung ist, den Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Lernen deutlich zu machen, worauf es bei einer Aufgabe ankommt: “Lernbehinderte lernen vieles deswegen nicht, weil sie nicht erfassen, worauf es bei einer Lernaufgabe ankommt, angefangen vom äußeren Sehen oder Bemerken bis hin zum Erfassen von Beziehungen.”
Die von außen vorgegebene Struktur gibt ihnen Regeln vor, nach denen etwas getan, geordnet und gegliedert werden kann. Damit hilft sie, Zusammenhänge durchschaubar zu machen, dient sie der Orientierung, erhöht sie die Vorhersagbarkeit von Ereignissen und erleichtert sie Entscheidungen. Sie hilft besser zu verstehen, was einen erwartet und was man wie tun soll. Dieses Verstehen bewirkt Sicherheit, und nur im Rahmen solch einer sicheren Umgebung können Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen sich neuen Erfahrungen öffnen und neues Verhalten erproben.
Man weiß heute, welche große Bedeutung emotionale Dimensionen auf das Lernen haben. Ob Lernprozesse gelingen oder nicht, hängt u. a. auch von der affektiven Deutung des Lerngegenstandes und der Lernsituation ab. Schüler der Schule für Lernbehinderte haben häufig bereits viele Versagenssituationen erlebt. Gerade für sie ist es wichtig, ein Umfeld zu erfahren, in dem sie sich sicher und geborgen fühlen können. Im schulischen Kontext werden Kinder durch die Strukturierungshilfen unabhängiger vom Lehrer und können sich stärker selbsttätig erleben.
Struktur bedeutet keinesfalls automatisch Starrheit. Die Strukturierung muss individuell angepasst und im Laufe der Entwicklung auch verändert werden. Sie darf in ihrer Art und Weise keinesfalls festgeschrieben sein. Strukturierung muss also im Zusammenhang mit Individualisierung und Flexibilität gesehen werden. Strukturierung, in diesem Sinne verstanden, muss also die Entfaltung des Schülers nicht zwangsläufig einschränken und seine Entscheidungsfreiheit minimieren. Vielmehr kann sie unter bestimmten Bedingungen günstige Entwicklungsbedingungen für Kinder und Voraussetzungen für deren Entscheidungsfreiheit bieten.
ARNHEIM, Rudolf: Entropie und Kunst. Ein Versuch über Unordnung und Ordnung. Köln 1979 BÖHM, Otto: Direktes Lernen – absolut falsch? In: Die neue Sonderschule 47 (2002) 381- 393
BRACK, Udo. B.: Überselektive Wahrnehmung bei retardierten Kindern. Reduzierte Informationsverarbeitung: Klinische Befunde und Fördermöglichkeiten. Göttingen 2001
BUSSE, Jochen: Autismus – Nerven unter Spannung. Transmitter, Rezeptoren, Psychopharmaka: neuromedizinische Erläuterungen. In: autismus (1999) 48, 26-30
CRUICKSHANK, W. M. et. al.: A teaching method for braininjured and hyperactive children. Syracuse: Syracuse press 1961
DUDEN Etymologie. Bd. 7. Mannheim 1963
HENLE, Kathrin / FUNSCH, Karin / LANG, Monika: Förderung von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen durch strukturiertes Unterrichten nach dem TEACCH-Ansatz. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 55 (2004) 369-379
HILLENBRAND, Clemens: Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen. München 1999 http://www.semgym.rv.bw.schule.de/forum/-disc/00000016.htm (13.11.02)
JEREMENKO, I.G.: Organisation der Lerntätigkeiten des Hilfsschülers auf der Grundlage einer Steigerung der Erkenntnistätigkeit. In: Die Sonderschule, 1. Beiheft: Pädagogisch-psychologische Erkenntnisse aus dem Hilfsschulunterricht in der UdSSR (1988) 21-25
KANTER, Gustav O.: Neuere Ergebnisse der Entwicklungspsychologie und ihre Konsequenzen für die Didaktik und Methodik der Sonderschule für Lernbehinderte. In: Baier, Herwig / Klein, Gerhard (Hrsg.): Aspekte der Lernbehindertenpädagogik. Einführende Texte. Berlin 21975, 257- 285
KÖSEL, Edmund / SCHERER, Helios: Konstruktionen über Wissenserwerb und Lernwege bei Lernenden. In: Voß, Reinhard (Hrsg.): Die Schule neu erfinden. Systemisch-konstruktivistische Annäherungen an Schule und Pädagogik. Neuwied 1996, 105-128
SIEPMANN, Gerda: Vom Lernen im Gleichschritt zum kooperativen Unterricht – Aspekte zur Weiterentwicklung einer didaktischen Förderung bei Lernschwierigkeiten. In: Die neue Sonderschule (2002) 27-37
SIEVERS, Mechthild: Frühkindlicher Autismus. Köln 1982.